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„Den gehobenen Schatz allen zugänglich machen"

Herr Dörk, Sie kommen aus der Visualisierungsforschung und haben uns bei Ihrem Abendvortrag mit dem Titel „Visualisierung kultureller Daten“ gezeigt, welche experimentellen Zugänge zu digitalisierten Beständen möglich sind. Wie haben Sie kulturelle Daten als Untersuchungsgegenstand und „Visualisierungsmaterial“ für sich entdeckt?

Marian Dörk: Ich habe mich tatsächlich schon immer mit Daten beschäftigt, die „mehr als Zahlen“ sind, doch die kamen nicht notwendigerweise aus dem Kulturbereich. In der Informationsvisualisierung beschäftigen wir uns unter anderem mit Datenräumen oder Datensätzen, die mehrdimensional und komplex sind, wie zum Beispiel Textkorpora, soziale Beziehungsnetzwerke, Objekte oder Sammlungen. Meine aktuelle Beschäftigung mit Kulturdaten hat sich über das von mir geleitete Projekt VIKUS – Visualisierungen kultureller Daten an der Fachhochschule Potsdam ergeben.

Was macht für Sie den Reiz bei der Beschäftigung mit kulturellen Daten aus?

Dass sie im Vergleich zu anderen Daten in der Visualisierung sehr reichhaltig sind. Es handelt sich einerseits um Metadaten, also um Informationen zu Objekten, bei denen zeitliche oder räumliche Dimensionen sowie die Kontexte der Objekte eine Rolle spielen. Andererseits können die Objekte, das heißt die Artefakte einer Sammlung, selbst über ihre materiellen, visuellen oder ästhetischen Eigenschaften in Erscheinung treten. Dadurch stellen sich bei der Visualisierung neue, andere Fragen, die sowohl für Visualisierungsforscher als auch für Kultur- und Geisteswissenschaftler interessant sind.

Was ist Visualisierungsforschung überhaupt? Seit wann gibt es diese Disziplin?

Visualisierung selbst gibt es schon seit Jahrhunderten. Seit wir Informationen und Daten aufzeichnen, geschieht dies auch visuell. Spätestens seit den frühen 1990er Jahren gibt es eine an die Informatik angelehnte Forschungscommunity, die sich mit der computergestützten Visualisierung von Daten beschäftigt. Hier unterscheidet man zwischen der Scientific Visualization – also der Visualisierung wissenschaftlicher, vor allem naturwissenschaftlicher Daten – und der Information Visualization – kurz Infovis –, der Visualisierung abstrakter Daten und Zusammenhänge. Zudem gibt es viele Vorläufer – in der Kartographie, in der Statistik, auch im Grafikdesign, in der Stadtplanung und der Wahrnehmungspsychologie –, auf die sich Visualisierungsforscher beziehen und von denen sie beeinflusst sind. Im Grunde geht es der Visualisierungsforschung darum, komplexe und umfangreiche Datenmengen sichtbar zu machen, um diese analysieren und neue Muster oder Bezüge entdecken zu können. Die Visualisierung, die dabei zum Einsatz kommt, ist computerbasiert, verwendet also algorithmische Verfahren und erlaubt die Interaktion mit den Daten.

Und welche Rolle spielen Visualisierungen für die Rezeption von kulturellen Beständen und Sammlungszusammenhängen?

Derzeit noch eine geringe. Der Fokus von Sammlungseinrichtungen liegt meist auf der Präsentation im physischen Raum. Doch mehr und mehr erforschen kulturelle Einrichtungen gemeinsam mit Visualisierungsexperten die Möglichkeiten digitaler Forschungs- und Vermittlungsmethoden wie die der Visualisierung.

Mit welchen Wünschen, Vorstellungen und Erwartungen treten Bibliotheken, Archive oder Museen dabei an Sie heran?

Wenn wir mit Sammlungseinrichtungen zusammenarbeiten, dann gibt es zwei Bereiche, in denen Visualisierung einen Beitrag leisten kann. Der erste ist eher intern: Die Sammlungsbetreuer wollen besser verstehen, womit sie es zu tun haben: Ausmaße, Dimensionen und Zusammenhänge des Bestands lassen sich über Visualisierung neu erkennen. Auf der anderen Seite steht eine nach außen gerichtete Absicht: Da gibt es den Wunsch, dass die zunehmend digitalisierten Bestände für eine spannende, erkenntnisstiftende, vielleicht auch unterhaltsame oder bildungsorientierte Nachnutzung verfügbar werden. Kultureinrichtungen haben ja in den letzten Jahren massiv in die Digitalisierung – sowohl in die Erstellung von Digitalisaten als auch in die Erschließung – investiert. Mit der Visualisierung wird die Hoffnung verbunden, den Schatz, der im Prinzip schon gehoben ist, für die Allgemeinheit und die vielen Nutzergruppen verfügbar zu machen.
 

Unterschiedliche Übersichts- und Detailgrade im Visualisierungsprojekt "Vergangene Visionen aus der Feder von Friedrich Wilhelm IV." von Katrin Glinka, Christopher Pietsch und Marian Dörk in Kooperation mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und der Programmfabrik. © VIKUS
 

Und können Sie diese Hoffnung in der Regel erfüllen? Oder sehen Sie auch Grenzen?

Ja und ja. Es gibt auch Grenzen, aber die betrachte ich produktiv: als interessante Reibungsflächen. Es gibt oft die Vorstellung, dass man die optimale Visualisierung finden kann, aber das erweist sich als Trugschluss. Die Daten sind immer vielschichtiger, als es eine einzige Grafik oder Visualisierung darzustellen vermag. Mein Plädoyer ist: Die eine Visualisierung gibt es nicht, wenn man sich einer komplexen Thematik oder Sammlung nähern will. Eine andere Grenze sind unsere Wahrnehmungskapazitäten. Das Versprechen, eine Übersicht über Millionen von Datenpunkten zu zeigen, bedeutet noch nicht, dass wir tatsächlich etwas erfassen, etwas Sinnvolles erkennen. Da bestehen menschliche Grenzen: Grenzen der Lese- und Interpretierfähigkeit. Nicht jeder Betrachter kann daraus Sinn schöpfen und sie interpretieren.

Die ideale Visualisierung ist demnach ein uneinlösbares Versprechen. Können Sie uns dennoch verraten, was Ihrer Meinung nach eine gute Visualisierung ausmacht?

Visualisierung funktioniert kaum, wenn sie statisch ist. Sie sollte die interaktive Analyse und Exploration unterstützen – und das auf eine Art und Weise, die nicht nur beschäftigt, indem sie Zeit vergehen lässt, sondern auch den Erkenntnisprozess fördert. In diesem Sinne muss die Visualisierung an den Fragestellungen der betrachtenden Person orientiert sein. Natürlich sollte sie auch den Daten gerecht werden und die essenziellen Aspekte hervorkehren. Eine Vielfalt an Perspektiven spielt hier eine wichtige Rolle: Wie können wir mehrere Sichtweisen theoretisch im Sinne einer kritischen oder feministischen Erkenntnistheorie, aber auch ganz praktisch im Sinne dynamischer Interfaces, die den Wechsel der Darstellungen unterstützen, ermöglichen? Vieles ist da noch zu entwickeln und einiges an Forschungsarbeit notwendig.

Können Sie uns eine gelungene Visualisierung nennen?

Ein gutes Beispiel ist das Projekt Explore · Australian Prints + Printmaking von Mitchell Whitelaw und Ben Ennis Butler von der University of Canberra. Sie zeigen mit fünf verschiedenen, sich hervorragend ergänzenden Visualisierungen, wie ein umfangreicher Bestand historischer Drucke mehrperspektivisch verfügbar gemacht werden kann. Hier wird nicht der Anspruch erweckt, den Datensatz abschließend zu repräsentieren. Vielmehr laden die Arrangements zum Wechseln der Ansichten und damit der Eindrücke ein.

Gibt es eigentlich so etwas wie ideale Daten?

Alle verfügbaren Daten sind ideale Daten (lacht), denn das sind Daten, an die man herankommt und mit denen man arbeiten kann. Das klingt banal, ist aber keinesfalls selbstverständlich. Zudem sollten sie in einer Weise strukturiert vorliegen, dass die wesentlichen Aspekte und Dimensionen extrahierbar sind. Das ist sehr basal und gleichzeitig die allererste Voraussetzung. Datenqualität spielt anschließend eine große Rolle: Eine besondere Herausforderung entsteht, wenn diese variiert und Datenfelder unterschiedlich verwendet werden. Heterogene Daten sind daher immer schwierig, aber auch spannend und – wenn ich darüber nachdenke – öfter die Regel als die Ausnahme. Für uns stellen sich dann die Fragen: Wie geht man damit um, dass essenzielle Dimensionen für bestimmte Objekte nicht belegt sind? Was passiert mit diesen Objekten? Fallen die dann durchs Raster? Will man nur die Datensätze, die vollständig sind? Und wenn ja, was passiert mit dem Rest? Neben den gezeigten muss man auch immer die fehlenden Daten hinterfragen. Spannend aus der Perspektive der Informationsvisualisierung sind nebenbei gesagt auch Daten, von denen man noch gar nicht genau weiß, was sie enthalten, und die den Einsatz eines Datenanalysten erst motivieren. Hier beschäftigen wir uns mit der Frage, wie das Interessante darstellbar gemacht werden kann, bevor wir wissen, was eigentlich interessant ist.

Ihr Vortrag fand im Rahmen eines MWW-Workshops in Weimar zur Erschließung und Visualisierung von Autorenbibliotheken statt, bei dem es um bibliographische Daten geht. Welche Chancen sehen Sie bei diesem besonderen Datentyp?

Bislang wurden bibliographische Daten meist durch die Brille des Suchschlitzes betrachtet. Dadurch ist der herkömmliche Modus des Suchens bestimmt. Allerdings bieten bibliographische Daten die Möglichkeit, andere Arten des Zugriffs zu unterstützen, weil sie Bezüge unter den Büchern und anderen Entitäten geradezu provozieren: über Autoren- und Ko-Autorenschaft zu Schlagworten und ähnlichen Begriffen. Auch implizite Bezüge wie ähnliche Zeiträume der Entstehung oder zwei einander unbekannte Verfasser, die denselben Verleger haben, können trotzdem über die entsprechenden Metadaten „vernetzt“ werden. Mithilfe der Visualisierung kann man darüber hinaus auf einer ganz anderen Ebene agieren, wenn die Informationen über die bibliographischen Daten hinausgehen und nicht nur Metadaten, sondern auch die Volltexte, Bilddaten oder Inhaltserschließung einbezogen werden.

Einerseits sind wir den täglichen Anblick von Torten- und Balkendiagrammen gewöhnt, die jeder mit dem einschlägig bekannten Programm aus dem Office-Paket in wenigen Klicks erzeugen kann. Andererseits findet im Internet ein Schaulaufen von visuell höchst ansprechenden Darstellungen statt. Welche Rolle spielen eine gute Gestaltung und Ästhetik bei der Visualisierung?

Ästhetik ist mittlerweile ein großes Thema in der Visualisierungsforschung. Edward Tufte, ein großer Verfechter der puristischen Informationsvisualisierung, hat Prinzipien einer – man könnte sagen – visuellen Askese propagiert. Demgegenüber haben Studien gezeigt, dass Diagramme, also eher statische Grafiken, in der Vermittlung von Informationen tatsächlich besser funktionieren, wenn sie „Chartjunk“, also dekorative Elemente, enthalten.

Und was ist Ihre persönliche Meinung?

Ich halte die Rolle der Gestaltung dann für besonders wichtig, wenn wir es nicht nur mit quantitativen Daten zu tun haben, sondern wenn zusätzlich Objekte im Mittelpunkt stehen, die eine eigene Ästhetik haben. Wenn wir Sammlungen visualisieren und vermitteln wollen, die selbst eine „Aura“, einen Geist oder eine Atmosphäre besitzen, dann sollten wir bemüht sein, dies ein Stück weit zu erhalten. Bislang sind die meisten Visualisierungstechniken und Suchsysteme eher „ästhetik-agnostisch“.

Was heißt das konkret?

Nun, es sind oft sehr neutrale, klare und im Sinne von Edward Tufte minimalistisch orientierte Systeme, die diesen eben beschriebenen besonderen Qualitäten von Sammlungen nicht gerecht werden. Vergleichen Sie die digitale Verfügbarmachung von Beständen mit der physischen Präsentation in Ausstellungen, bei denen die Ästhetik ja eine sehr große Rolle spielt: über die Farbgebung der Wände, über die Lichtinszenierung und das Arrangement der Objekte. Sämtliche dieser kuratorisch-ästhetischen Überlegungen, die hier so essenziell sind, werden in der digitalen Verfügbarmachung tendenziell ignoriert. Aber wie auch in der Philosophie oder Kunstgeschichte ist Ästhetik kein abschließend definiertes Konzept in der Informationsvisualisierung – und Visualisierungsforscher maßen sich auch nicht an, diese Aufgabe zu übernehmen. In unserer aktuell laufenden Forschung in Potsdam geht es aber darum, eine inhaltliche Angemessenheit und kulturelle Sensibilität bei der Gestaltung von Sammlungsinterfaces zu erreichen.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten bei der „Kulturdaten-Fee“ drei Wünsche frei: Was würden Sie sich von Kultureinrichtungen für die Zukunft wünschen?

Ganz oben stünden die Offenheit in Bezug auf die Vermittlung und der Wille, die Inhalte tatsächlich öffentlich frei verfügbar zu machen, so dass dann Experimenten wie der Visualisierung oder Datenanalyse keine rechtlichen Barrieren im Wege stehen. Der zweite Wunsch: Zur technischen Verfügbarkeit und Strukturierung von Daten, die ich ja schon angesprochen hatte, gehört der Zugang zu Daten. Und zuletzt: die Lust auf die Zusammenarbeit mit Designern und Visualisierungsforschern, so dass die Vermittlung und Gestaltung von Interfaces nicht getrennt von den Einrichtungen und Sammlungsexperten ablaufen, sondern iterative und interdisziplinäre Prozesse in Gang kommen. Nur so können die Ergebnisse den Sammlungen gerecht werden. Das wäre der Dreiklang, den ich mir wünschen würde.


Dr. Marian Dörk ist Forschungsprofessor für „Information Visualization & Management“ an der Fachhochschule Potsdam. Als Leiter des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten dreijährigen Projekts „Visualisierung kultureller Sammlungen (Vikus)“ forscht er mit einem interdisziplinären Team an neuen Methoden, das kulturelle Erbe im Digitalen visuell zugänglich zu machen. Auf Einladung von MWW-Mitarbeiterin Lydia Koglin hielt er am 11. April 2016 im Rahmen des zweitägigen Workshops „Bibliotheken in der Bibliothek: Sammlungen erschließen – rekonstruieren – visualisieren“ des MWW-Forschungsprojekts „Autorenbibliotheken“ in Weimar einen Abendvortrag mit dem Titel „Visualisierung kultureller Daten. Experimentelle Zugänge zu digitalisierten Beständen“.

Lydia Koglin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin „Digital Humanities“ des Forschungsverbunds MWW in Weimar.

 

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