Das Interview führten Timo Steyer und Nicole Alexander.
Frau Henny, Herr Andorfer, wie sind Sie zur Digitalen Editionswissenschaft gekommen?
Ulrike Henny: Über ein DFG-Projekt, für das jemand gesucht wurde, der die digitale Edition der „Amoenitates Exoticae“ von Engelbert Kaempfer konzeptionell-technisch begleitet. Diese lateinische Schrift ist das Hauptwerk Kaempfers, der Arzt und Forschungsreisender war, und erschien erstmals 1712. Heute wird die digitale Edition übrigens an der Herzog August Bibliothek gehostet. Als ich mich für das DFG-Projekt beworben habe, war ich gar nicht mehr an der Uni, sondern im Bereich Web-Entwicklung tätig. Ich bin dann mit den praktischen Kenntnissen, die ich mir dort angeeignet habe, in die Wissenschaft und zu den digitalen Geisteswissenschaften zurückgekehrt.
Peter Andorfer: Bei mir war es genau umgekehrt: Während meiner Dissertation über die „Weltbeschreibung“ des Tiroler Bauern Leonhard Millinger, die er zwischen 1790 und 1815 verfasst hat, kam ich auf die Idee, Teile dieser etwa tausend Seiten umfassenden Handschrift zu transkribieren und zu veröffentlichen. Ich habe mich dann für die digitale Variante entschieden, weil ich dadurch die Möglichkeit hatte, Faksimiles des Manuskripts einzubinden. Dadurch kann sich der interessierte Leser selbst ein Bild von der Qualität meiner Arbeit machen.
Das technische Know-how haben Sie sich also beide selbst beigebracht?
Andorfer: Ich hatte das Glück, ein Stipendium im Bereich „Digital Humanities“ an der Herzog August Bibliothek zu bekommen. Dadurch hatte ich zum einen Zeit, um mich mit dem Thema digitale Editionen auseinanderzusetzen, und zum anderen Ansprechpartner, die mir bei technischen Fragen weiterhelfen konnten.
Kam über ein DFG-Projekt zur Digitalen Editionswissenschaft: Ulrike Henny. Foto: Nicole Alexander
Henny: Ich habe gegen Ende meines Studiums 2009 an der Uni Köln als Zusatzqualifikation ein IT-Zertifikat für Geisteswissenschaftler gemacht. Damals habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich um eine Stelle in einer Bibliothek zu bewerben, und es war klar, dass für eine Tätigkeit dort Office-Kenntnisse nicht ausreichen würden. Dieses IT-Zertifikat war also gewissermaßen der Einstieg. Der Rest war Learning by Doing.
Ist der Bereich Digitale Editionswissenschaft besonders gut für Nachwuchswissenschaftler geeignet, weil sie mit den digitalen Medien aufgewachsen sind und daher den neuen Methoden offen gegenüberstehen?
Andorfer: Ja, ich denke schon. Ein weiterer Grund, weshalb dieser Bereich für den wissenschaftlichen Nachwuchs attraktiv ist, liegt sicherlich darin, dass digitale Editionen abgesehen von der eigenen Arbeitszeit sehr wenig kosten. Außerdem kann ich viel schneller Ergebnisse vorzeigen als bei der traditionellen Editionswissenschaft. Das macht es sehr reizvoll.
Wie hoch ist die Lernkurve, um sich mit den Grundlagen digitaler Editionsarbeit vertraut zu machen?
Andorfer: Einen Text in XML oder TEI zu kodieren, ist nicht schwer. Etwas überspitzt formuliert: Wer lesen und schreiben kann, der ist auch in der Lage, eine digitale Standard-Edition zu erstellen. Ich glaube, es ist vor allem eine mentale Barriere, die anfangs durchbrochen werden muss. Denn wenn man bislang nur mit Word gearbeitet hat, also in einer „What you see is what you get“-Umgebung, dann ist der Blick hinter diese Fassade erst einmal sehr verwirrend. Wenn man diese mentale Barriere aber einmal überwunden hat, erkennt man sehr rasch, dass digitale Editionsarbeit kein Hexenwerk ist, sondern sehr einfach und gut nachvollziehbar.
Henny: Das sehe ich genauso. Ich habe des Öfteren erlebt, dass Wissenschaftler, die aus einem eher traditionellen Bereich kommen und sich nun erstmals an einer digitalen Edition versuchen, schnell wieder aufgeben. Sie denken, dass sie dafür zu viel Neues lernen müssen und dass sie das einfach nicht schaffen. Das finde ich sehr schade, weil es nicht stimmt.
Man muss also nicht unbedingt ein Nerd sein, um eine digitale Edition erstellen zu können?
Henny (lacht): Nein. Es sei denn, man möchte wirklich alles selbst machen.
Andorfer (lacht ebenfalls): Zumindest macht es mehr Spaß, wenn man einer ist.
Wenn Sie Ihre digitalen Editionsprojekte auf Tagungen oder Kolloquien vorstellen: Welche Vorbehalte begegnen Ihnen dann zumeist?
Henny: Wenn Vorbehalte, dann in der Art: Solche Projekte werden doch nie fertig. Und: Warum kann ich meine Texte nicht einfach weiter in Word bearbeiten und anschließend ein PDF daraus machen? Das ist doch auch digital.
Was antworten Sie darauf?
Henny: Ich erkläre dann immer, was der Unterschied ist zwischen einem PDF und einer aus meiner Sicht echten digitalen Edition, in der die Präsentation getrennt ist von der Haltung und Kodierung der Daten. Und ich versuche, die Vorteile klar zu machen: Dass man schneller als in einer gedruckten Edition zu vorzeigbaren Ergebnissen kommt und dass Korrekturen jederzeit möglich sind.
Glaubt, dass das gedruckte Buch weiterhin dominieren wird: Peter Andorfer. Foto: Nicole Alexander
Andorfer: Wenn ich sage, dass die Daten frei verfügbar sind, dann haken die Leute meist ein und sagen: Aha, dann kann ja auch jeder mit meinen Daten machen, was er will. Das ist für sie das Allerschlimmste, was passieren kann. Dabei ist doch genau das der Mehrwert: Ich stelle meine Daten zur Verfügung, damit andere Forscher darauf aufbauen können. Denn eine digitale Edition komplett abzuschließen, ist ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ich glaube, diese Sichtweise wird sich erst ganz allmählich durchsetzen.
Das klingt so, als ob die digitale Editionswissenschaft noch eine Menge Überzeugungsarbeit leisten muss. Wie wird sich denn Ihrer Meinung nach das Verhältnis von gedruckter zu digitaler Edition entwickeln? Wird die Hybrid-Ausgabe die Form der Zukunft sein oder wird es in absehbarer Zeit nur noch digitale Editionen geben?
Andorfer: Letzteres glaube ich nicht. Wer sich in den Geisteswissenschaften einen Namen machen will, muss nach wie vor ein gedrucktes Buch vorweisen können. Das ist eine Frage der Wissenschaftssozialisation. Außerdem sind die Druckkostenzuschüsse, die viele Wissenschaftler, die ein Buch publizieren wollen, einwerben müssen, ein lukratives Geschäft für die Verlage. Solange sich das nicht ändert, wird das gedruckte Buch weiterhin dominieren. Viele finden es wahrscheinlich auch angenehmer, ein gedrucktes Buch zu lesen als eine digitale Edition. Wobei: Die Zahl der Menschen, die sich gemütlich ins Bett legt, um dort einen mehrere hundert Seiten langen kritischen Apparat zu studieren, dürfte sehr überschaubar sein. Eine wissenschaftliche Edition befrage ich, schaue sie auf bestimmte Fragestellungen hin an. Dass das mit einem gedruckten Buch besser geht als mit einer digitalen Edition, wird mir niemand ernsthaft erzählen können.
Henny: Dass es den Schritt nur zurück zum Buch gibt, kann ich mir gar nicht vorstellen. Zudem lässt sich ja nicht jede digitale Edition ohne Verluste wieder in Buchform pressen. Ich glaube, die gedruckte Ausgabe ist vor allem dann sinnvoll, wenn man ein Werk einfach lesen möchte oder für seine Arbeit auf einen etablierten Text zurückgreifen will. Alles, was darüber hinausgeht, wird zunehmend in den digitalen Editionen stattfinden – denken Sie etwa an die vollständige Bereitstellung von Faksimiles, die Herr Andorfer vorhin erwähnt hat.
Dass Sie beruflich überzeugt sind von der Digitalisierung, überrascht uns nicht. Aber wie sieht es privat aus? Lesen Sie da vor allem E-Books oder greifen Sie doch lieber zum gedruckten Buch?
Andorfer: Ich bin in den letzten Jahren recht oft umgezogen, und da habe ich es mir schon aus Bequemlichkeit angewöhnt, kaum noch echte Bücher zu kaufen.
Henny: Ich versuche auch, möglichst viel elektronisch zu lesen. Allerdings sind längst nicht alle Bücher, die mich interessieren, als E-Book verfügbar. Daher sind meinem vollständigen Umstieg aufs E-Book leider Grenzen gesetzt.
Die Gesprächspartner:
Ulrike Henny hat Regionalwissenschaften Lateinamerika in Köln und Lissabon studiert. Nach Tätigkeiten im Bereich Web Development und in einem von der DFG geförderten Editionsprojekt zu Engelbert Kaempfer hat sie von 2011 bis 2015 am Cologne Center for eHumanities (CCeH) Vorhaben der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste digital begleitet. Derzeit ist sie Teil der Nachwuchsgruppe "Computergestützte literarische Gattungsstilistik" (CLiGS) an der Universität Würzburg. Sie ist außerdem Mitglied des Instituts für Dokumentologie und Editorik (IDE).
Peter Andorfer hat Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck studiert und wurde dort mit einer Arbeit über die Werke des Tiroler Bauern Leonhard Millinger (1753-1834) promoviert. Während eines längeren Forschungsaufenthalts an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel veröffentlichte er eine digitale Ausgabe von dessen Hauptwerk, der „Weltbeschreibung“. Andorfer arbeitete außerdem in den DARIAH-DE-Projekten „Forschungsdaten“ und „Wissenschaftliche Sammlungen“ mit und betreibt die Internetseite www.digital-archiv.at , um diverse Arten von DH-Projekten zu entwickeln und bereitzustellen.
Die Tagung
Eine Dokumentation der Tagung „Digitale Metamorphose. Digital Humanities und Editionswissenschaft“, die vom 2. bis 4. November 2015 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel stattfand, finden Sie hier. Dort stehen unter anderem die beiden Eröffnungsvorträge von Bodo Plachta und Joâo Dionísio als Audiofiles sowie die Powerpoint-Präsentationen verschiedener Referentinnen und Referenten zur Verfügung.