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„Ein grossartiges internationales Gespräch“

Die Fragen stellte Nicole Alexander

Frau Professor Richter, im Rahmen der Internationalen Sommerschule „World Literature, Global Archives“ reden Doktoranden aus zwölf verschiedenen Ländern und vier verschiedenen Kontinenten über Weltliteratur. Was erwarten Sie sich von dieser Konstellation?

Ich hoffe, dass die Sommerschüler Konzepte, Gedanken, vielleicht auch Archivmaterial, das sie hier vorfinden, in ihre Heimatländer mitnehmen – und dass wir von ihnen lernen können. Außerdem glaube ich, dass es für die Sommerschüler anregend ist zu sehen, was Doktoranden in anderen Ländern tun, aus welchem Denken heraus sie hierher kommen. An welchen Themen sie sitzen, wie sie diese entwickeln. Ob sie eher über Gegenwartsfragen arbeiten oder ob sie sich auf Historisches einlassen. Inwiefern sie Weltliteratur einbeziehen in ihre Arbeiten und wie riskant diese Arbeiten sein können. Es ist ein großartiges internationales Gespräch.

Sie selbst haben gleich am ersten Tag der Sommerschule ein Seminar zu Goethes „Faust“ gegeben.

Ja, da konnte ich meine eigenen Ansätze erproben und herausfinden, wie die Studenten darauf reagieren, was sie bereits kennen, was verblüfft. Die indischen Doktoranden sind aus ihren Kontexten heraus vertraut mit Konzepten von Hybrid-Literatur und sehr interessiert daran, mehr darüber zu erfahren. Anderen ging es eher um die Frage, ob zur Weltliteratur nur Werke zählen, die qualitativ hochwertig sind und wie man solche Qualität bemessen könnte – was man kaum kann. Andere Studenten wiederum wollten viel über den Buchmarkt für Weltliteratur wissen.

Eine ziemliche Bandbreite an Fragen…

Ja, die Vielfalt der Interessen ist so groß, wie ich es mir erhofft hatte. Es ist spannend zu sehen, dass die Sommerschüler in ganz verschiedene Richtungen schauen und wie sie es tun. Sie fragen aus bestimmten Herkunftskulturen heraus. Zugleich aber sind sie offen und angeregt – nicht nur durch die Vortragenden, sondern auch durch ihre Kommilitonen –, auch andere Aspekte wahrzunehmen. Das ist für mich als Lehrende ein sehr reiches Erlebnis.

Sie sagten gerade, Sie hätten in Ihrem Seminar auch über die Frage diskutiert, was ein Werk zu Weltliteratur macht. Wie lautet Ihre Antwort?

In erster Linie wird ein Buch zu Weltliteratur aufgrund seiner weltweiten Rezeption, die man natürlich prüfen kann, indem man sich den Buchmarkt, die Leser-Reaktionen und die Literaturkritiken anschaut. Damit ein Werk zu Weltliteratur werden kann, muss es Übersetzungen geben. Das ist gewissermaßen die pragmatische Seite. Jenseits dessen gibt es auch Qualitätskriterien. Die aber sind notorisch vage: Oft sind solche Werke ein prononcierter Ausdruck von Tendenzen der Zeit – es geht weniger darum, was dargestellt wird als darum, wie etwas dargestellt wird.

Können Bücher, die in einem qualitativen Sinn nicht herausragend sind, dennoch Weltliteratur sein?

Ja, unter pragmatischem Aspekt sicher. Denken Sie an die Dramen von Kotzebue und Iffland oder, gegenwärtiger, an Harry Potter. Auch Literatur, die nicht ästhetisch kontrovers oder aus irgendwelchen Gründen besonders anregend ist, wird ja weltweit gelesen. Und ist damit im eben beschriebenen Sinne Weltliteratur. Es gibt eigentlich zwei Herangehensweisen. Zum einen die qualitative, die fragt: Was kann gute Weltliteratur sein, welche Kriterien kann man nennen? Muss das Werk möglichst konkret sein? Muss es bestimmte lokale Konstellationen schildern? Muss es geeignet sein für den globalen Leser? Zum anderen die quantitative, die untersucht, wie stark ein Werk weltweit rezipiert wird.

Für Goethe war Weltliteratur diejenige Literatur, die das allgemein Menschliche zum Gegenstand hat und die zum gegenseitigen Verstehen beiträgt. Wie hat sich dieses Verständnis von Weltliteratur bis heute gewandelt?

Wichtig ist zu wissen, dass Goethe keine Theorie der Weltliteratur hatte. Er hatte auch nicht wirklich einen Begriff von Weltliteratur. Er hat in verschiedenen Kontexten darüber gesprochen. Dabei lassen sich bei ihm zwei Sichtweisen feststellen. Eine optimistische, die sagt, dass sich alle an Weltliteratur beteiligen sollten, weil sie etwas Großartiges, Kommunikatives, Freies, Partizipatives sei. Und eine negative Sichtweise, etwa wenn er von der „anmarschierenden Weltliteratur“ spricht, davon, dass es keine qualitativ hochwertige Literatur mehr gebe, dass die Literatur gefährdet sei, weil immer mehr produziert werde. Der positive Begriff entwickelt sich bei Goethe ab 1827, der negative kurz danach, spätestens ab 1831, also kurz vor seinem Tod.

Wie werden Goethes Aussagen zum Phänomen der Weltliteratur heute rezipiert? 

In der Forschung zurzeit sehr rege; zum Teil wird Goethes Nachdenken über Weltliteratur überhöht und als Theorie verstanden. Mitunter beleuchtet man den Begriff aber auch kritisch und fragt, was Goethe eigentlich damit meinte und was wir heute, auch jenseits von Mitteleuropa, mit diesem Begriff anfangen können.

Der heutige Weltliteraturbegriff ist also noch stark von Goethe geprägt?

Ja, man fängt meistens damit an, geht darauf zurück, fragt sich, was sich seither entwickelt hat. Zwischen 1770 und 1830 gab es einen unglaublichen Weltenthusiasmus. Es wurden Begriffe geschaffen wie Weltbürger, Weltliteratur, Weltgeschichte, Weltall, Weltmarkt. In diesem Zusammenhang sind viele Konzepte entstanden, die heute noch wichtig sind. Nehmen Sie nur das Konzept des Weltbürgers. Werte entstanden, universales Denken, mit denen immer wieder und bis heute gearbeitet wird – natürlich gebrochen und mit dem Bewusstsein, dass man mit diesen Konzepten nicht so einfach und enthusiastisch umgehen kann wie damals.  

Heute sorgen Internationalisierung und Globalisierung dafür, dass immer mehr Bücher Leser auf der ganzen Welt finden und begeistern. Was bedeutet das für das Konzept der Weltliteratur?  

Es fächert sich auf. In allen Ländern, zwischen allen Ländern haben wir Literatur, die man als hybrid bezeichnen kann und muss. Literatur also, die mehr als einer Nation angehört. Nehmen Sie in Deutschland die deutsch-türkische Literatur mit Autoren wie Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu. Oder denken Sie an die Nobelpreisträgerin Herta Müller, die zwischen Rumänien und Deutschland steht und deren Texte ganz wesentlich über das Rumänien der Securitate handeln. Es gibt viele, viele Autoren, die sich nicht mehr nur einer Kultur zugehörig fühlen. Das ist ein sehr typisches Phänomen, das mit Reisen, mit Internationalität zu tun hat und das weltweit zu beobachten ist.

Woher stammt der Begriff „Hybrid-Literatur“?

Aus dem postkolonialen Bereich. Entwickelt wurde er vor allem von Homi Bhabha aus dem indischen Diskurs heraus für Literatur, die unter den Bedingungen des Kolonisatoren-Englisch entstanden ist,  eigenständig wurde, eigene Strategien des Denkens und des Schreibens ausgeprägt hat, die wie die Parodie implizit oder explizit subvertierend sind. Aber mittlerweile gibt es diese Hybrid-Literatur überall. Und sie wird natürlich gern gelesen von Menschen, die sich selbst international orientieren und sich nicht mehr so gefestigt in einer Nation sehen.

Was bedeutet diese Entwicklung für Archive und Verlage?

Sie müssen begreifen, dass ein Autor nicht nur ein innerhalb der Landesgrenzen sich bewegendes Phänomen ist. Denn Autoren bleiben ja längst nicht immer in Deutschland. Sie gehen über Stipendien vermittelt an die Villa Massimo in Rom, sie gehen nach Indien, in die USA, sie gehen überall hin und bringen andere Wahrnehmungen mit, vielleicht auch andere Sprachen und andere Literaturkontakte. Daniel Kehlmann etwa ist befreundet mit der englischen Schriftstellerin Zadie Smith. Natürlich werden die meisten Schriftsteller über die heimischen Verlage, das heimische Lesepublikum bekannt. Dann geht es aber oft tatsächlich weiter. Und was ist anregender für Autoren wie für Leser als Literatur, die von außen auf das eigene Land schaut!  

Geht der Trend also von Weltliteratur hin zu einer Global Literature, zu Autoren, die eine globalisierte Identität haben?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass beides geht. Ich lese diese jungen Kosmopoliten wie Taye Selasi sehr gern, ich lese aber genauso gerne Gabriel García Márquez, den magischen Realismus, also Literatur, die sich sehr konkret mit bestimmten Umfeldern befasst, aber natürlich global denkt, globales Denken anregt. Es gibt mehr als ein mögliches Schreiben und Lesen. Nehmen Sie hier aus dem Schwäbischen Ulf Stolterfoht und sein großartiges Versepos auf Stuttgart. Ob es international rezipierbar ist, weiß ich nicht. Aber es ist für sich genommen erst einmal fantastische Literatur…

Welche Rolle spielt der englischsprachige Buchmarkt für die weltweite Rezeption literarischer Werke?

Eine dominante. Was auf dem englischsprachigen Buchmarkt ist, wird meist schnell rezipiert und übersetzt. Gelesen wird darüber hinaus, was über die großen Literaturauszeichnungen vermittelt wird. Die Vergabe des Nobelpreises für Literatur setzt jedes Mal eine weltweite Übersetzungsmaschinerie in Gang. Das Lizenzgeschäft hat sich enorm beschleunigt. Man sieht mehr, man kann mehr lesen, man kann über das Internet viel schneller Dinge zur Kenntnis nehmen. Literatur ist potenziell lokale Literatur und potenziell natürlich auch Weltliteratur, auch wenn sie zum Teil nicht für den Weltmarkt geschrieben ist.

Dem westlichen Konzept der Weltliteratur wird oft der Vorwurf gemacht, dass es ganze Kontinente ausblende. Ein berechtigter Vorwurf?

Nein, das hat sich bereits Anfang der 2000er Jahre sehr geändert. Natürlich sind nach wie vor die angloamerikanischen Comparative Literature Departments ein gewisser Durchlauferhitzer für Weltliteratur, sowohl mit Blick auf Konzeptprägungen als auch auf Autoren. Aber es ist nicht so, dass andernorts Stillstand herrschte. In China, in Taiwan, in Indien etwa gibt es sehr lebendige Szenen, und wir sehen ja gerade, wie konzeptreich und interessiert die Sommerschüler hier ankommen und was sie alles kennen.  

Haben Sie den Eindruck, dass für sie die gleichen Werke zur Weltliteratur zählen wie für Ihre deutschen Studenten?

Was deutsche Literatur betrifft, ja. Es gibt sicherlich etwas andere Schwerpunktbildungen. Im Ausland ist der Kanon oft etwas verengt; in erster Linie zählen Goethe, Schiller, Rilke, Kafka dazu. Selbst so bekannte Autoren wie Wieland sind schwerer unterzubringen. Das liegt daran, dass die Studenten erst einmal die Sprache lernen müssen und dann möglichst Musterbildendes suchen, was in den jeweiligen Kanon passt, was übersetzt ist. Das heißt aber nicht, dass etwa Gegenwartsautoren nicht gelesen werden. Im Gegenteil: Viele der Sommerschüler interessieren sich für Fragen der Gegenwartsliteratur, zum Beispiel für die Hybrid-Autoren, für das Türkisch-Deutsche. Es gibt also beides: den etwas verengten Kanon, aber auch eine große Neugier für das Gegenwärtige.

Glauben Sie, dass sich die Sommerschüler auf einen Kanon von Weltliteratur einigen könnten?

Nein, dazu sind die Vorlieben zu unterschiedlich. Es gibt aber vielleicht eine gewisse Schnittmenge. Ich denke, jede und jeder hier würde Goethe und Rilke dazuzählen, aber jenseits dessen regieren die Vorlieben. 

Was nehmen Sie persönlich aus dieser Sommerschule mit?

Ich finde vor allem die Dissertationsthemen der Sommerschüler sehr anregend, da sie oft nah am Material entwickelt sind. Nehmen Sie zum Beispiel die ägyptische Doktorandin, die über Reiseliteratur von Frauen arbeitet, oder die chinesische Studentin, die sich etwas zur chinesischen Rezeption von Enzensberger überlegt, oder den russischen Doktoranden, der sich mit Gottfried Benn auseinandersetzt, oder die französische Doktorandin, die zur Darstellung nicht-deutschsprachiger Literatur im Suhrkamp Verlag arbeitet. Das sind schon sehr spezielle Fragen, die viel Kenntnis voraussetzen und ein starkes Interesse an bestimmten Gebieten – und das macht mich einfach glücklich.  

Dr. Sandra Richter ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Zuletzt erschienen: Mensch und Markt. Warum wir Wettbewerb fürchten und trotzdem brauchen. Hamburg 2012.

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