Warum erfordern Autorenbibliotheken besondere Bestandserhaltungskonzepte? Was erzählen diese Bücher als Objekte? Wie kommen Bestandserhaltung, Provenienzforschung und Literaturwissenschaft zusammen? Warum müssen und wie können Schäden an Büchern aus dem Besitz von Autorinnen und Autoren sichtbar erhalten werden? Darüber diskutierten im Sommersemester 2020 Enke Huhsmann (Diplom-Restauratorin, DLA Marbach) und Andrea Pataki-Hundt (Diplom-Restauratorin, TH Köln) mit Caroline Jessen (MWW-Mitarbeiterin ‚Transatlantischer Bücherverkehr‘) und Studentinnen des Cologne Institute of Conservation Sciences (CICS) der TH Köln.
Im DLA lässt sich die Arbeit von Autor*innen nicht nur anhand ihrer Publikationen, Manuskripte und Briefe erforschen, sondern auch anhand der Spuren, die sie als Leser*innen in Büchern hinterlassen haben. Diese Spuren ermöglichen, Arbeitsweisen zu rekonstruieren, Referenzmaterial zu finden und, wie fragmentarisch auch immer, die Verbundenheit eines Texts mit den vielen vor ihm vorhandenen Texten nachzuvollziehen. Zudem verweisen eingeklebte Fotos, Beschädigungen, Einlagen und Stempel etc. in Büchern auf die Geschichte von Sammlungen und ihren Besitzer*innen. Im Mittelpunkt des Seminars standen die mehrfach translozierten Bibliotheken von Autoren, die nach 1933 aus Nazideutschland emigriert sind. – darunter der Buchbesitz von Siegfried Kracauer (1889-1966) und Karl Wolfskehl (1869–1948).
Zu ausgewählten Büchern dieser Bibliotheken haben die Studentinnen schriftliche Bestandserhaltungskonzepte entwickelt, die den Umgang mit Beschädigungen und Provenienzmerkmalen reflektieren.
Walter Benjamin, »Einbahnstraße« (Berlin: Rowohlt 1928) aus dem Besitz von Siegfried Kracauer
Theresa Frey
Bei dem Buch handelt es sich um eine Broschur. Der Buchblock ist in einen vierfach gerillten, flexiblen, blauen Kartonumschlag eingeklebt. Dieser wird von einem Schutzumschlag des russischen Fotografen und Collageurs Sasha Stone (1895–1940) umhüllt. Der 83 Seiten umfassenden Buchblock aus Papier wird durch eine Fadenheftung zusammengehalten.
Insgesamt befindet sich das Buch in einem weitgehend gut erhaltenen Zustand. Die Benutzbarkeit ist jedoch aufgrund einzelner stark versprödeter Materialien sehr eingeschränkt. Die Schäden konzentrieren sich auf den Einband und den Schutzumschlag. Sie sind überwiegend mechanisch-physikalischen Ursprungs und auf die natürliche Alterung sowie die Nutzung des Buches zurückzuführen.
Der Vorderdeckel ist entlang des verklebten Vorderfalzes abgerissen und liegt aktuell lose neben dem Buch vor. Der Schutzumschlag ist entlang des Buchrückens in zwei Teile zerrissen, in der Folge sind durch Ausbrüche entlang der Kanten mehrere Fehlstellen entstanden. Einzelne Fragmente kleben noch am Rücken des Einbandes. Die vorderen und hinteren Einschläge sind im Falzbereich und an den Kanten beschädigt.
(Bild 1 u. 2: Walter Benjamin, »Einbahnstraße« (Berlin: Rowohlt 1928) aus dem Besitz von Siegfried Kracauer mit Benutzungsspuren)
Ideen für ein Erhaltungskonzept
Schwerpunkt des Erhaltungskonzeptes ist die Sicherung der vorgefundenen Provenienzmerkmale und Nutzungsspuren. Um diese Spuren möglichst unverfälscht sichtbar zu lassen, sollen alle Maßnahmen so wenig wie möglich in das ästhetische Erscheinungsbild und den überlieferten Zustand des Objektes eingreifen. Wenn der Erhaltungszustand des Objektes umfassendere Eingriffe erfordert, sollen diese sich explizit vom Originalzustand absetzen.
Zunächst soll die Verbindung zwischen dem Vorderdeckel und dem auf das erste Blatt übergreifenden Falz wiederhergestellt werden, um die Widmung Walter Benjamins für Kracauer auf dem Schmutztitel zu schützen und einem Verlust des losen Deckels entgegen zu wirken. Die ursprüngliche Einheit des Buches wird wieder hergestellt. Für das erkennbar ›neue‹ Gelenk soll ein Streifen aus Japanpapier verwendet werden, der auf dem übergreifenden Falz sowie auf dem abgerissenen Vorderdeckel rückseitig entlang des Falzes verklebt wird. Zur Erhöhung der Haltbarkeit kann für den Streifen auch ein passendes Japanpapierlaminat angefertigt werden.
Soll der Schutzumschlag – wie in den Autorenbibliotheken des DLA generell üblich – am Exemplar verbleiben, muss die für die Benutzung erforderliche mechanische Stabilität des Schutzumschlages wiederhergestellt werden. Risse sowie abrissgefährdete Bereiche können dazu entweder lokal mit Japanpapier hinterlegt oder auch flächig kaschiert werden. Der mechanisch stabilisierte Schutzumschlag kann dann über die an den Seiten befindlichen Einschläge wieder um den Vorder- bzw. Rückdeckel gelegt und zusätzlich durch einen Steckumschlag aus PE-Folie am Buch gehalten werden.
Soll der Schutzumschlag getrennt vom Exemplar erhalten werden, wäre ein stabilisierender Eingriff am originalen Schutzumschlag nicht zwingend notwendig, da dieser nicht die für die Benutzbarkeit erforderliche mechanische Stabilität besitzen müsste. Das Buch könnte ohne Schutzumschlag im Regal aufgestellt werden, während der fragile Umschlag separat verpackt werden könnte und als Zeitdokument unberührt erhalten bliebe. Um das ursprüngliche Erscheinungsbild trotzdem ablesbar zu machen, ließe sich der originale Schutzumschlag durch ein Faksimile repräsentieren.
Anton Henseler, »Jakob Offenbach« (Berlin: M. Hesse 1930) aus dem Besitz von Siegfried Kracauer
Maike Linden
Der Einband des Buches weist leichten Oberflächenschmutz sowie leichte Abnutzungsspuren am Gewebe auf. Der hintere Falz ist vollständig gebrochen. Der Buchblock zeigt verschiedene Beschädigungen. Besonders auffallend ist, dass die Heftung des Buchblockes fast vollständig aufgelöst wurde und das Objekt weniger wie ein Buch, sondern mehr wie eine Loseblattsammlung in einer Mappe gebraucht wurde. Es gibt verschiedene Beschädigungen des Papieres, beispielsweise in Form von kleineren Rissen und Fehlstellen, Tinten- oder Wasserflecken.
Des Weiteren finden sich darin handschriftliche Bemerkungen, die mit verschiedenen Schreibmedien angefertigt wurden. Mit einem rot-braunen und einem blauen Buntstift wurden Annotationen und Anstreichungen gemacht, die sich über den gesamten Buchblock verteilen. Mit Bleistift gibt es Zahlenvermerke, die sich hauptsächlich auf das Literaturverzeichnis beschränken. Auf einer einzelnen Seite befindet sich eine ausführlichere Annotation, die mit schwarzer Tinte angefertigt wurde.
(Bild 3: Anton Henseler, »Jakob Offenbach« (Berlin: M. Hesse 1930) aus dem Besitz von Siegfried Kracauer)
Konzept für konservatorische/ restauratorische Maßnahmen
Bei einem ›gewöhnlichen‹ Restaurierungskonzept liegt der Fokus unter anderem auf der Erhaltung der Funktionalität, im Falle des vorliegenden Objektes also auf dem Erhalt der Funktionalität als Buch. Unter Betrachtung des Aspektes, dass das Objekt Teil einer Autorenbibliothek ist, liegt der Fokus darauf, viele Schäden und Gebrauchsspuren am Buch zu erhalten, wenn diese zur Objektbiographie gehören und Aufschluss über die Wichtigkeit bestimmter Dinge geben können.
Der gebrochene Falz im Rücken würde normalerweise so geschlossen werden, dass ein Bruch auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen ist. Unter Berücksichtigung der Autorenbibliothek soll jedoch das sogenannte Joint tacketing durchgeführt werden. Dabei werden der Rückdeckel und der Rücken durch Heftzwirn miteinander verbunden. Mit einer Ahle oder Nadel werden Löcher in das Objekt gestochen, durch die der Zwirn gezogen und anschließend verknotet wird. Der Eingriff ist gut erkennbar und klar vom Original zu unterscheiden, ist dennoch sehr zurückhaltend und unauffällig.
Normalerweise würde man den Buchblock neu heften, um die Funktionalität als Buch herzustellen. In diesem Fall soll die Heftung jedoch nicht rekonstruiert werden, da sonst der Teil der Objektgeschichte, in der es als ›Mappe‹ verwendet und mit den einzelnen Blättern gearbeitet wurde, verloren gehen würde.
Risse sollen nur mit sehr dünnem Japanpapier gesichert werden, damit nicht mehr die Gefahr des weiteren Einreißens besteht, die Gebrauchsspuren jedoch immer noch sichtbar bleiben und gezeigt werden kann, welche Blätter stärker beschädigt waren und deshalb wahrscheinlich auch häufiger benutzt wurden. Fehlstellen sollen nicht wie sonst häufig ergänzt, sondern auf die gleiche Weise wie die Risse nur soweit gesichert werden, dass das Papier an den Bereichen nicht weiter beschädigt wird.
Friedrich v. d. Leyen und Karl Wolfskehl (Hg.), »Älteste deutsche Dichtungen« (Leipzig: Insel -Verlag ca. 1933) aus dem Beitz von Karl Wolfskehl und Paul Hoffmann
Lilian Samland
Es handelt sich um einen schmalen Ganzpapierband mit geradem Rücken und Pappdeckeln, der mit zweifarbig bedrucktem Papier bezogen ist. Auf Vorderdeckel und Rücken befinden sich einfache Papierschilder. Der Buchrücken ist teilweise abgelöst. Die losen Teile wurden im Inneren des Bandes gelagert.
(Bild 4: Friedrich v. d. Leyen und Karl Wolfskehl (Hg.), »Älteste deutsche Dichtungen« (Leipzig: Insel -Verlag ca. 1933) aus dem Beitz von Karl Wolfskehl und Paul Hoffmann)
Der Band scheint für den nach Neuseeland geflüchteten Dichter Karl Wolfskehl und den aus Wien emigrierten Paul Hoffmann (1917–1999) ein Erinnerungsstück gewesen zu sein. An einer Widmung auf dem fliegenden Blatt vorne ist erkennbar, dass Wolfskehl das Buch Paul Hoffmann 1942 in Auckland geschenkt hat. Das Interesse an der althochdeutschen Dichtung verband die beiden Emigranten. Das daneben eingeklebte Foto mit Bildunterschrift »Mai 1935 Florenz« ist außerdem ein Verweis auf Karl Wolfskehls erste Exilstation in Italien. Als Teil des Nachlasses Paul Hoffmanns gelangte der Band ins DLA.
(Bild 5: Abbildung Kassette)
Um den abgelösten Rücken als Benutzungsspur zu erhalten, bieten sich verschiedene Möglichkeiten der Verpackung an. Es kann eine Einzelverpackungen in Form einer Banderole oder eines Schutzumschlags angefertigt werden, an der das Fragment in einem Papiertütchen befestigt wird. Außen könnte der Originalrücken als Faksimile oder ein Titelschild aufgeklebt werden, um das Auffinden des Bandes im Regal zu erleichtern. Dabei handelt es sich um eine sehr schlanke Einzelverpackung, die trotzdem für einen gewissen Schutz sorgt und gleichzeitig erlaubt, das Fragment direkt am Objekt zu lagern. Eine Sammelverpackung mehrerer gleichartiger Bände, beispielsweise in Form einer Kassette (Bild 5) würde zwar für Platzersparnis sorgen, könnte aber gleichzeitig zu Verwirrung beim Zuordnen der verschiedenen Einbandfragmente führen. Auch hier ließe sich durch das Anbringen faksimilierter Rücken an den Kassetten die Auffindbarkeit im Magazin erleichtern, da die Marbacher Bibliotheksbestände nicht mit Signaturschildern ausgestattet sind. Die aktuelle Anordnung der Bände in den Regalen müsste entsprechend ihrer Größe verändert werden, um eine Sammelverpackung zu ermöglichen. Solche Eingriffe in die Ordnung von Beständen erfolgen nach Absprache mit dem Benutzungsreferat. Entscheidend ist, wie die Beschädigungen an anderen ähnlich großen Büchern aussehen. Wenn nur bei einzelnen Bänden Fragmente beiliegen, wäre eine Sammelverpackung für verstreut aufgestellte Bände sinnvoll.
Letztlich sollte vor der Wahl des Bestandserhaltungskonzepts die Anzahl und das Ausmaß der Beschädigungen an ähnlich großen Bänden bewertet werden.