Budapest, Winter 1956 – “Jetzt freue ich mich einfach darüber, dass Sie gesund sind.” Mit diesem Seufzer der Erleichterung beginnt die junge 27jährige Philosophin Ágnes Heller ihren ersten Brief an ihren akademischen Mentor und Lehrer, den “teuren Genossen Lukács”. Ein Briefwechsel auf einer politischen Nadelspitze: Georg Lukács, einer der Wortführer der ungarischen Opposition, wurde zu jener Zeit, Ende 1956 bis April 1957, auf sowjetischem Befehl an einem unbekannten Ort in Rumänien gefangen gehalten. Ein abgründiger Kassiber-Wechsel entspinnt sich in diesen Wochen zwischen Schülerin und Meister, der nun kommentiert zum ersten Mal in der Winterausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte (“Kommissar Lukács”, ZIG, Heft VIII/4, www.z-i-g.de) nachzulesen ist.
Über ein halbes Jahrhundert später: Ágnes Heller, der Lukács in den fünfziger und sechziger Jahren als junges Mädchen „steinalt“ vorgekommen war, ist nun selbst hochbetagt, aber intellektuell feurig und ideensprühend wie eh. Auf Einladung der Zeitschrift und des Lukács-Archivums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ist sie zur Heftvorstellung in Lukács‘ berühmte letzte Wohnung in die Belgrád rakpart 2 gekommen. Schnell findet sich ein kleines Symposion ungarischer Freunde zusammen mit Heller als philosophischem Stern in der Mitte. Ein Gespräch entzündet sich über Lukács‘ hochempfindsame ästhetische Seele, seine marxistischen Exerzitien und lebenslangen Helden Lenin, dem Heller nie viel abgewinnen konnte - bis zur Dialektik bürgerlicher Neurosen, die auch Lukács nicht fremd waren. Bis spät in die Nacht lässt die Runde Lukács‘ abenteuerliches Jahrhundertleben zwischen Heidelberg, Moskau und Budapest Revue passieren. Der Abend endet mit einem Blick auf seinem berühmten Schreibtisch, auf dem, als Lukács 1971 starb, nur die gesammelten Werke von Sigmund Freud standen.
Ulrich von Bülow im Gespräch mit der ungarischen Philosophin Ágnes Heller, die Georg Lukacs als Achtzehnjährige im Seminar kennen lernte und später als seine Assistentin arbeitete.