Das Feld des digitalen Publizierens erinnert ein wenig an frühneuzeitliche Seekarten: Zwar sind die Grenzen der Länder, die von den Konquistadoren und Seefahrern damals gerade entdeckt worden waren, auf diesen Karten halbwegs richtig eingezeichnet. Doch weil das Landesinnere oftmals unbekannt war, wurden ihnen als dekorative Elemente gern phantastisch anmutende Städte, schreckenerregende Ungeheuer und sagenhafte Schätze hinzugefügt.
Auch im Bereich des digitalen Publizierens sind die Grenzen bzw. Rahmenbedingungen hinlänglich bekannt – die technischen Grundlagen sowie die Vor- und Nachteile gegenüber traditionellen Druckverfahren. Viele zentrale Anforderungen und Methoden des digitalen Publizierens hingegen sind nicht endgültig geklärt.
So haben sich in den Geisteswissenschaften beispielsweise noch keine Standards für digitale Zitierrichtlinien etabliert, sind grundsätzliche Fragen der Langzeitarchivierung noch nicht hinreichend gelöst. Auch komplexe Fragestellungen, etwa wie mit der Veränderbarkeit von Texten im Netz umgegangen werden soll oder welche neuen Potentiale sich für Evaluationsverfahren im digitalen Raum ergeben, werden zu weiten Teilen „umschifft“.
Widersprüchliche Situation
Dabei ist es wichtig, Antworten auf diese Fragen zu finden. Denn sie ziehen weitere nach sich: Welchen Kurs sollen beispielsweise Gedächtniseinrichtungen wie Archive und Bibliotheken als mögliche neue Distributoren einschlagen? Welche Rolle kommt den Verlagen im Zuge der erstarkenden Open-Access-Bewegung zu? Weil all dies noch ungeklärt ist, schrecken viele Forscherinnen und Forscher vor dem vermeintlichen Abenteuer des wissenschaftlichen digitalen Publizierens zurück.
Die Folge ist eine höchst widersprüchliche Situation: Einerseits werden digitale Ressourcen immer selbstverständlicher für die Forschung genutzt. Andererseits aber erscheinen selbst Aufsätze, die sich mit Themen aus dem Bereich der Digital Humanities beschäftigen, oft ganz traditionell in gedruckter Form. Die Potenziale, die das digitale Publizieren mit Blick auf Genauigkeit und Transparenz sowohl den Veröffentlichungen selbst als auch den Formen der Diskussionen über diese bietet, bleiben dabei oft ungenutzt.
Vielfältige Themenfelder
Auf diese Situation reagierte der Verein Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) 2014 mit der Einrichtung der Arbeitsgruppe „Digitale Publikationen“. Dieser AG gehören mit Constanze Baum und Timo Steyer auch zwei Mitarbeiter des Forschungsverbunds MWW an.
Die Themenfelder der AG sind vielfältig: Sie beschäftigt sich mit allen Stadien und Komponenten der Publikation, von der Urheber- und Autorschaft über Lizenzmodelle bis hin zur Diskussion neuer Kommunikations- und Distributionswege. Denn gewohnte und etablierte Verfahren von Print-Publikationen werden im digitalen Raum obsolet, Sichtweisen auf die Komponenten von Veröffentlichungen und deren Zusammenspiel ändern sich.
Think Tank für den Umbruch im Publizieren
Die Arbeitsgruppe versteht sich als Think Tank für den Umbruch im Publizieren. Im Rahmen einer Expertengruppe werden all die oben genannten Faktoren, ihre Veränderungen und die Folgen, die damit verbunden sind, eingehend diskutiert. Die AG will Forschenden und Fördereinrichtungen mit Best-Practice-Beispielen helfen und Anregungen für neue, digitale Wege des Publizierens geben.
Dabei geht es nicht um eine Abkehr von Print. Vielmehr sollen alternative digitale Publikationswege etabliert werden. Die beteiligten Mitglieder des Forschungsverbundes MWW verfügen mit der als reines E-Journal konzipierten Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) und den digitalen Publikationen aus den Forschungsprojekten über relevante Publikationsformate und bringen ihre Expertise in diesem Bereich ein.
Die Vermessung des digitalen Publizierens
Ziel der Arbeitsgespräche sind Guidelines und Empfehlungen, die von ausgewiesenen Spezialisten erarbeitet worden sind. Die AG hat ihre Arbeitsfelder im Bereich des digitalen Publizierens bereits identifiziert:
- kollaborative Textproduktion und der Wandel wissenschaftlicher Autorschaft
- Gutachterkulturen, Peer-Review-Verfahren und deren Rahmenbedingungen
- der Mehrwert des Digitalen: strukturierte, semantische, verlinkte Texte
- Open Access, Open Science/Humanities
- Versionierung und Zitierfähigkeit
- Evaluierung und Konzipierung von digitalen Publikationsdesigns
Auf einem Berliner Arbeitstreffen im Mai 2015 wurden mit Impulsreferaten und Debatten zu den hier genannten Themen bereits Wegmarken gesetzt. Im Laufe des Jahres sind erste Arbeitspapiere zu erwarten. Ziel ist es, die Terra incognita des digitalen Publizierens sukzessive zu kartografieren und im Zuge einer gemeinsamen Aufklärungsarbeit vermeintliche Schreckgespenste, wie das vom Verlorengehen wissenschaftlicher Publikationen im Netz-Nirwana, von der digitalen Landkarte verschwinden zu lassen.
Weitere Informationen unter:
http://www.dig-hum.de/arbeitsgruppe-publikationen