Imposant über dem Neckar thronend, im perfekten Winkel zum goldenen Abendlicht, lädt der Komplex auf der Marbacher Schillerhöhe – das Deutsche Literaturarchiv, das Schiller-Nationalmuseum, das Literaturmuseum der Moderne und das Collegienhaus – aktiv zum literarischen Metaphernspiel ein. Gerne werden Verweise auf Elfenbeintürme und Zauberberge bemüht, manchen mutet die Atmosphäre auch klösterlich an. Mich persönlich erinnerte das Collegienhaus – das DLA-eigene Gästehaus – an ein Schullandheim für Geisteswissenschaftler*innen, was vor allem an dem Wein-Automat im Keller gelegen haben mag. Nach langer Unsicherheit, ob mein Aufenthalt überhaupt möglich sein würde, konnte ich mich an diesem ungewöhnlichen Ort im August 2021 ganz der Auslotung meines Promotionsprojektes widmen.
Blick vom DLA über das Neckartal, © Anna Weber
Beworben hatte ich mich für meine Forschungshospitanz beim Forschungsverband Marbach Weimar Wolfenbüttel (MWW) über den Careers Service der Universität Oxford, während ich dort mein Masterstudium der Modern English Literature abschloss. In den dunklen Stunden des Jahresanfangs-Lockdowns schien mir ein tatsächlicher Aufenthalt in Marbach in so weiter Ferne, dass ich als Teil meiner Bewerbung auf meine deutsche Staatsbürgerschaft verwies, um immerhin meine Einreise garantieren zu können.
Mein erster Eindruck vom DLA war dann auch der eines Ortes, der sich gerade wieder in die Präsenz vortastet. Die Belegung des Collegienhauses war unerwartet international (zumindest europäisch-international); bei den improvisierten Vespern auf der Dachterrasse waren Italienisch und Polnisch genauso zu hören wie Deutsch in allen regionalen Färbungen. Das Angebot in der Cafeteria blieb zwar noch auf die Automaten beschränkt, doch wurde ich erfreulich häufig von den DLA-Mitarbeiter*innen zu Kennenlern-Kaffees, Forschungs-Austauschs-Kaffees oder einfach Literarischen-Gesprächs-Kaffees eingeladen. Für das Forschungsereferat des DLA und den Forschungsverbund MWW wirkte ich sowohl am Präsenz-Format als auch dem Online-Auftritt der im Oktober eröffneten neuen Ausstellung »Wie Literatur Welt + Politik macht« im Literaturmuseum der Moderne mit. (Meine Beiträge zu Rabindranath Tagores globaler Reichweite und der »Systemwechslerin« Gabriele Tergit finden Sie im Online-Ausstellungsraum des DLA). Eine Hybrid-Veranstaltung, deren Präsenz-Teil mich und meine Mit-Praktikant*innen in besondere Aufregung versetzte, war die Konferenz »Literature in the Nobel Era« mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller vor Ort in Marbach. Mit einer persönlichen Autogrammstunde hatte nach Monaten von Zoom-Interaktionen keine von uns gerechnet.
Brief von Rabindranath Tagore an seine deutsche Übersetzerin Helene Meyer-Franck, © DLA Marbach
Abgesehen von meinen Tätigkeiten für das Forschungsreferat und dem Forschungsverbund konnte ich mich im Rahmen meiner Hospitanz zur Hälfte der Zeit der Recherche für mein Promotionsprojekt widmen. In diesem möchte ich mich mit der Schriftstellerin Gabriele Tergit beschäftigen, deren Werk gerade eine kleine Renaissance erfährt: Nach mehreren Jahrzehnten werden ihre Bücher neu aufgelegt und Archivmaterial teilweise erstveröffentlicht (siehe auch den DLA-Podcast vom März). Das Einlesen in den Nachlass einer Autorin, über deren Leben noch keine Biographie erschienen ist, hat einen ganz besonderen Reiz. Zwar muss man sich alle Bezüge selbst zusammenpuzzeln und mit dem cast, der die Briefe und Tagebücher bevölkert, vertraut machen. Doch die Illusion, dass man möglicherweise die erste oder eine von nur ganz wenigen Personen ist, die ein bestimmtes Dokument einsehen konnten, eröffnet einen sehr intimen Blick auf eine historische Persönlichkeit und deren Schaffen. Dafür kehrte ich immer gerne in den Handschriftenlesesaal zurück – trotz Augustwetters draußen.
Anna Weber war nach ihrem Master in Modern English Literature (St Hilda’s College, Oxford) im August 2021 als Forschungshospitantin am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Sie twittert unter @weberovka.