Im Rahmen einer vom Forschungsverbund MWW ausgeschriebenen Forschungshospitanz durfte ich vier Wochen in Weimar forschen, leben und arbeiten. Die Stadt bietet dafür ideale Bedingungen – nicht nur wissenschaftlicher Natur. Ein Sommer in der kleinen, aber charmanten Stadt ist, so meine Erfahrung, ein erfolgreich verbrachter Sommer.
Erfolg habe ich in der Fallstudie »Goethe Digital« gesehen: Dem Team ist es gelungen, die Privatbibliothek Goethes in einen Onlinekatalog zu übertragen. Sie ist so durchsuchbar, recherchierbar und übersichtlich zusammengefasst. Der Wert des Kataloges ist unschätzbar, denn die Bibliothek war Goethes hauptsächliches Arbeitsinstrument. Mit diesem nun erschlossenen Schatz an Literatur, Fachwissen und Enzyklopädien können Forscher*innen zu Goethe umfangreicher, detaillierter und präziser Bezüge, Zitate und Anmerkungen erarbeiten und benennen. Und dennoch wird der Katalog vermutlich nie ganz abzuschließen sein. Viele Bücher sind im Laufe der Zeit schlicht verloren gegangen, haben ihre*n Besitzer*in gewechselt oder wurden aussortiert. Goethe ist mit seiner Bibliothek wesentlich weniger nachwelt-bewusst umgegangen als mit seinen anderen Sammlungen. Er hat aussortiert, verschenkt und verkauft. Ein besonderes Beispiel eines so fluiden und dynamischen Bestandes zu sehen hat mich beeindruckt. Mir sind zudem Schwierigkeiten aber auch Chancen im Umgang mit solchen Beständen, besonders im museologischen Kontext, bewusst geworden. Aber auch Fragen des bibliothekswissenschaftlichen Umgangs haben sich mir gestellt. Wie stellt man eine Bibliothek dieses Ausmaßes aus? Wie lässt sich dieses immaterielle Wissen, das buchstäblich zwischen den Zeilen steht, ausstellen? Wie sieht ein Kompromiss zwischen Erhaltung und Konservation bei gleichzeitiger musealer Präsentation und wissenschaftlicher Zugänglichkeit aus?
Deckblatt des »Catalogus Bibliothecae Goethianae« von 1822 bis 1839 von Goethes Bibliothekar Friedrich Theodor Kräuter handschriftlich geführt. HAAB Weimar
Erfolgreich inszeniert hat Elisabeth Förster-Nietzsche ihren Bruder Friedrich. Ich hatte in meiner Zeit in Weimar auch Einblicke in die Fallstudie »Kunst und Memoria«, die ›jenseits des Werks‹ arbeitet und damit vor allem Fragen der Nietzsche-Rezeption behandelt. Mit Nietzsche habe ich auch meine ersten drei Tage im Archiv verbracht, die daraus bestanden, sämtliche Fotografien des Ikonografie-Bestandes zu sichten. Eine schier unendliche Menge, die jedoch nur einen Bruchteil des gesamten Bestandes zu Nietzsche abbildet. Förster-Nietzsche hatte Erfolg in ihrer Sammelwut, in ihrer Festschreibung eines Nietzsches-Bildes und in ihrer Etablierung des Nietzsche-Archivs in Weimar. Besonders eindrücklich ist es, wenn Fotografien von Kunstwerken zeugen, die nicht erhalten sind. Die Fotos im Goethe-Schiller-Archiv sind dann oft der einzige Beleg dafür, dass es diese Kunstwerke überhaupt gegeben hat.
Farbautotypie als Beilage des »Jul Rosor« 1910, Motiv Edvard Munch. GSA, Signatur GSA 101/63a (ÜF 256).
Einen späten Erfolg durfte ich in meiner eigenen Forschung verbuchen. Mein Vorhaben war es, zu Minna Körner und ihrer Familie zu forschen. Christian Gottfried Körner gilt gemeinhin als einer der engsten Freunde Schillers, seine spätere Frau Minna (geborene Stock) war die Tochter des Mannes, der Goethe in Leipzig Zeichenunterricht gab. Ihre Schwester Dora sollte später eine profilierte Porträtzeichnerin werden. Ich ging mit wenig konkreten Informationen nach Weimar, denn die Körners sind im Strudel der Kanonisierung oft vergessen worden. Zudem haben sowohl Christian Gottfried als auch Minna und der Sohn Theodor sich literarisch betätigt, was die Unterscheidung bisweilen kompliziert machen kann. Die Großzahl der authentischen Manuskripte ist allerdings ohnehin in einem Ende des 19. Jahrhunderts in Dresden errichteten Körner-Museum im Februar 1945 in den Bomben verbrannt. Ich konnte aber über die Archivdatenbank des GSA Briefe von Minna Körner an unterschiedliche Empfänger*innen recherchieren. Ich hoffte so, die zeitgenössische Relevanz der Körners als kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Treff- und Mittelpunkt über die Briefkultur rekonstruieren zu können. Mein später Erfolg waren dann Briefe von Minna Körner an Charlotte Schiller. Sie zeugen von einer Freundschaft, enthalten aber auch Berichte von Konzert-, Theater- und Opernbesuchen. Diese Briefe belegen so auch eine weibliche Kunstkritik – die allerdings nur im privaten Rahmen ausgeübt wurde. Der Bestand des GSA ist unvollständig, die Lücken sind evident, es müssen wesentlich mehr Briefe geschrieben worden sein. Mithilfe verschiedener Bestände, Abteilungen und Mitarbeitenden der Klassik Stiftung versuchte ich zu rekonstruieren, wie die Briefe in das GSA gekommen sind. Denn den Bestand mit seinen Wegen und Herkünften zu rekonstruieren kann als erster Schritt hilfreich sein – ein Projekt, das ich weiterhin verfolge.
Anfang des Briefes vom 17. Februar 1802 von Minna Körner an Charlotte von Schiller. GSA, Signatur GSA 83/1776.
Weimar war für mich in mindestens dreifacher Sicht erfolgreich: Es haben sich mir neue Fragen, Problematiken und Sichtweisen eröffnet. Ich habe etwas über Bestand, Ausstellung und Erhaltung gelernt. Und ich habe Goethe, Nietzsche und die Körners aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten können als in meinem Studium. Denn die vielleicht wichtigste Erkenntnis bleibt für mich, dass man als Literaturwissenschaftler*in unbedingt mit, an und über die Bestände arbeiten sollte. Wenn sie auch noch so reichhaltig sind wie in Weimar bleiben keine Wünsche offen.
Sophie Charlotte Wehner ist Studentin der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover und kurz vor dem Abschluss des Fachmasters. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte widmen sich insbesondere der Sattelzeit, Fragen von (fehlenden) Kanonisierungsprozessen sowie Rezeptionsästhetik und literarische Publikationskontexte im 18. Jahrhundert.