Goethes Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar, Fotothek, Foto: Jens Hauspurg.
Einführung
Die Passion für Goethe und seine Texte begleitet mich schon seit meiner frühsten Jugend, die in den Wunsch mündete, sein Werk auch wissenschaftlich zu erforschen. Die Inspiration zum Thema meiner Forschungsarbeit bekam ich durch meine Tätigkeiten bei den Forschungsprojekten Autorenbibliotheken: Goethes Bibliothek und Goethe Digital unter der Projektleitung von Stefan Höppner. Durch die Forschungshospitanz beim Forschungsverbund MWW in Weimar konnte ich im Archiv der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu meinem Projekt forschen und die Arbeit abschließen. Der nachfolgende Artikel gibt einen kurzen Einblick in meine wissenschaftliche Untersuchung.
Goethes Privatbibliothek und die Lesespuren in den Büchern
Die Privatbibliothek von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ist eine der bedeutendsten Autorenbibliotheken der deutschen Literatur, die bei seinen relevanten literarischen Projekten ein essenzielles Arbeitsmittel war und reichhaltiges Quellenmaterial zur Kontextualisierung seiner Werke beinhaltet. Einige historische Exemplare der Bibliothek sind mit Lesespuren versehen, die zeigen, wie Goethe mit den Büchern gearbeitet hat und entschleiern, was im fertigen Text zunächst verborgen bleibt.
Eine Lesespur ist eine absichtlich gesetzte stiftliche Spur in einem gelesenen Buch, das mit einem Schreibwerkzeug, wie mit einer Feder oder einem Bleistift hinterlassen wurde. Dabei gibt es zwei Arten von Lesespuren: verbale und nonverbale Lesespuren. Zur zweiten Gruppe gehören An- und Unterstreichungen, die in den Büchern von Autorenbibliotheken am häufigsten vertreten sind. ‚Anstreichungen‘ sind Striche am seitlichen Rand von Texten. Striche, die unterhalb von Textzeilen erkennbar sind und sich auf den direkt darüber befindlichen Text beziehen, werden als ‚Unterstreichungen‘ bezeichnet. Eine Unterstreichung zeigt ihren Bezug meist genau an, da sie einzelne Zeichen oder Wörter hervorhebt. ‚Marginalien‘ gehören wiederum zu den verbalen Lesespuren, die sich auf den naheliegenden Text beziehen und nicht nur stiftlich sind, sondern in Schrift übergehen. Mit Marginalien drückt die Leserin oder der Leser ihre bzw. seine Meinung aus.
Die Herkunft einer einzelnen Spur kann oft nur schwer einer bestimmten Person zugeordnet werden. Dies ist besonders bei nonverbalen Lesespuren der Fall. Hierbei helfen die Kontextualität und die Untersuchung von Ähnlichkeiten bei den einzelnen Lesespuren. In Goethes Fall ist dies gut möglich, da es bezüglich der Art der Handschrift und der Anbringung der An- und Unterstreichungen sowie anderer Lesespuren große Ähnlichkeiten gibt. Vor allem die einfache Unterstreichung und der kurze, nur eine Zeile betreffende Strich am seitlichen Rand sind typisch für die Bücher in Goethes Bibliothek.
Neue Perspektiven zur Genese der Italienischen Reise anhand von Lesepuren
Goethe in der Champagne, Städel Museum, Frankfurt am Main.
Besonders die Entstehung der Italienischen Reise lässt sich mit Hilfe der Bücher aus Goethes Privatbibliothek nachvollziehen, denn beim Verfassen des Textes wurde Goethe durch Bücher aus seiner Bibliothek beeinflusst, in denen sich Lesespuren befinden. Die Analyse der Lesespuren in diesen Bänden sowie ihre Kontextualisierung in Bezug auf die Entstehung einzelner Werke Goethes, wie der Italienischen Reise wurde zuvor jedoch noch nicht untersucht. Im Zuge meiner Hospitanz in Weimar konnte ich in der HAAB verschiedene Quellen sichten, die Goethe bei diesem Produktionsprozess verwendete. Dabei stachen insbesondere die Historisch-kritische Nachrichten von Italien von Johann Jacob Volkmann (1732–1803) aus der Masse der Bücher von Goethes Privatbibliothek heraus, weil sie diverse Lesespuren enthalten, die Indizien über den literarischen Produktionszyklus der Italienischen Reise liefern. Volkmann war ein Schriftsteller und Reisender, der nach seinem Studium zu seiner eineinhalbjährigen Italienreise aufbrach. Sein dort erworbenes Wissen hielt er in Form eines Fremdenführers in drei Bänden fest. Goethe nutzte ihn auf seiner Reise vielfach als literarischen Begleiter, dessen Exemplar er von Karl Ludwig von Knebel bekam und ihn nach der Reise in seine Bibliothek aufnahm. In einem brieflichen Tagebuch der italienischen Reise für Charlotte von Stein, das die Grundlage für die spätere stilisierte Druckversion war, verweist Goethe direkt auf Volkmanns Werke und nennt spezifische Seitenzahlen. Nachfolgend werden exemplarisch einige Untersuchungsergebnisse aus der Analyse des dritten Bandes vorgestellt:
Ausschnitt aus der Analyse des dritten Bandes der Historisch-kritischen Nachrichten von Italien
Klassik Stiftung Weimar, Anna Amalia Bibliothek
Bei der Analyse des dritten Bandes zeigte sich, dass in der im Rahmen von MWW entstandenen Goethe Bibliothek Online, dem digitalen Verzeichnis von Goethes Bibliothek sowie in Hans Rupperts gedrucktem Katalog zwar die verschiedenen Lesespuren vermerkt sind, aber nicht vollständig. Hans Ruppert (1885–1964) war ein Altphilologe und Goetheforscher, der 1959 den Katalog zur Goethe-Privatbibliothek herausgab. Bei meiner eigenen Überprüfung des Originals fanden sich 38 verbale und nonverbale Lesespuren und nicht nur 19 wie im Online-Katalog aufgelistet. Projektleiter Stefan Höppner trug, die im Zuge der Arbeit zusätzlich gefundenen Lesespuren nachträglich in den Online-Katalog ein. Die relativ große Anzahl überrascht, weil Goethe selten in seine Bücher schrieb – vielmehr favorisierte er es, Notizen separat auf einem Papieranzufertigen. Markant ist zudem, dass Ruppert nur Marginalien, nicht aber andere Arten von Lesespuren nennt. Das lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass er die Marginalien für zentraler hielt und auch hauchzarte Anstreichungen darunter sind, die der im Alter fast blinde Ruppert leicht hätte übersehen können.
Anstreichung wahr. von J. W. von Goethe. In: Volk I 3, S. 515.
Unter den 16 nonverbalen Lesespuren gibt es keine Unterstreichungen, sondern nur Anstreichungen. Sie tauchen meistens am Rand auf und sind entweder waagerecht, senkrecht oder schräg. Bei fünf von den 16 Anstreichungen fanden sich passende Textstellen bei Goethes Italienischer Reise. Zu den verbalen Lesespuren gehören unter anderem die allographen Marginalien, die vorliegen, wenn fremde Werke bearbeitet werden. Sie sind in diesem Band mit einer substanziellen Anzahl von 21 vorherrschend. Den Großteil der Lesespuren fertigte der Literat mit Bleistift (19 Stück) an, doch einige Marginalien wurden mit anderen Schreibgeräten, wie mit der Feder oder mit einem Rötelstift verfasst.
Marginalie, Rötelstift von J. W. von Goethe. In: Volk I 3, S. 654.
Die meisten Marginalien, 17 Stück, sind Datumsangaben. Dabei gibt es bei 13 Marginalien eine Übereinstimmung mit dem Inhalt der Buchfassung der Italienischen Reise. Das sind mehrheitlich Beschreibungen von Orten, die Goethe während seiner Reise besuchte. Von den 38 Lesespuren gab es wiederum 22 Parallelen mit dem Inhalt von Goethes Werk. Darunter sind fünf An- und Unterstreichungen sowie 13 Marginalien. Außergewöhnlich sind hierbei die vielen verschiedenen Datumsangaben, bei denen es Kongruenzen bezüglich des Zeitpunktes von Goethes Aufenthalt in Italien sowie der damit verbundenen literarischen Verarbeitung gibt. Von den 15 Datumsangaben haben wiederum 12 eine inhaltliche Kongruenz gezeigt:
Die Besonderheit der Datumsangaben
Marginalie, Bleistift von J. W. von Goethe. In: Volk I 3, S. 687.
Eine Besonderheit bei den Datumsangaben ist eine Marginalie aus der Kombination von Zahlen und Wörtern, die Goethe mit einem dünnen Bleistift schrieb. So notierte er auf einer Seite des Kapitels über Verona, auf der der architektonische Zustand der Stadt beschrieben wird, nicht nur „14.15“, sondern auch „nicht sonderlich“. Auf der theoretischen Ebene handelt es sich hierbei um eine expressiv-rezeptive Lesespur, weil es ein Kommentar ist und Goethe damit eine gewisse Emotionalität ausdrückt, indem er eine unmittelbar abwertende Lesereaktion zeigt. Die inhaltliche Ebene betrachtend, könnten die beiden Zahlen sich darauf beziehen, dass Goethe in der Nacht vom 14. auf den 15. September 1786 in Verona ankam, wie es in seiner Italienischen Reise steht. Sein Kommentar „nicht sonderlich“ bei Volkmann bezieht sich auf folgende Stelle: „Verona hat sechs und eine halbe Meile im Umfang und vier Tore, welche von guter Architektur sind“. In der Italienischen Reise, ist passend zu Goethes Randkommentar über Veronas Zustand, etwas Gegenteiliges zu Volkmanns Text zu finden: „Ich machte ihn und das Volk aufmerksam auf den Verfall dieser Türme und dieser Mauern, auf den Mangel von Toren, kurz auf die Wehrlosigkeit des ganzen Zustandes und versicherte, ich habe hier nichts als eine Ruine zu sehen und zu zeichnen gedacht.“ Hier erwähnt Goethe explizit den schlechten Zustand der Stadt, indem er vom „Verfall“, dem „Mangel von Toren“ und der „Wehrlosigkeit“ der Stadt spricht und damit Volkmanns Schilderungen widerspricht.
Die Ähnlichkeiten zwischen der Quelle und der späteren literarischen Verarbeitung sind frappierend, sodass die Vermutung nahe liegt, dass Goethes Kommentar einen bestimmten Zweck hatte, er nicht zufällig entstanden ist und im direkten Bezug mit dem Entstehungsprozess der Italienischen Reise steht. Die Marginalie ist ein Indiz für die intensive Auseinandersetzung des Literaten mit der Passage und dass er sie wahrscheinlich hinterließ, nachdem er sich selbst von dem Zustand der Stadt überzeugen konnte. Die Entstehung der Marginalie vor der Reise ist unwahrscheinlich, da sie auf eine persönliche Erfahrung hindeutet. Sie entstand entweder während der Reise oder nach Goethes Weimar-Rückkehr, vielleicht sogar erst, als er an die Niederschrift seines Buches ging.
Welche Erkenntnisse ergeben sich aus den Lesespuren?
Klassik Stiftung Weimar, Anna Amalia Bibliothek
Anhand der diversen Lesespuren können Einblicke in den Produktionsprozess der Italienischen Reise geboten werden, die Belege für die ‚Gemachtheit‘ des Textes sind und darlegen, dass der Reisebericht kein authentisches, während der Reise entstandenes Dokument ist, obwohl Goethe ihn so erscheinen lassen will Es stellte sich heraus, dass Goethe eine inhaltliche und stilistische Veränderung seines originalen Reiseberichts für Charlotte von Stein vornahm, hin zu einer distanzierten Darstellung, bei der er den persönlichen Ton herausnahm, das Pathos sowie die Begeisterung, die in den Tagebüchern zu spüren waren, reduzierte. Zudem wurden Passagen gekürzt oder weggelassen, Verweise auf andere Quellen wie auf den dreibändigen Reisebericht von Johann Jacob Volkmann eliminiert sowie Erlebnisse auf andere Tage verschoben. Damit fand eine Simulation von Unmittelbarkeit statt und die eigene ästhetische Urteilskraft wurde betont. Goethe konsultierte diese Schriften und das Wissen daraus floss in seinen Reisebericht ein, was die These des Konstruktes und der Stilisierung untermauert.
Die Analyse der Lesespuren offenbart, wie Goethe die untersuchten Bücher las – mit welcher Intensität und aus welchen Gründen sowie Leitmotiven. Durch sie wird der direkte Bezug zu seinem literarischen oder wissenschaftlichen Produktionszyklus sichtbar. Mit dem Wissen aus den Büchern besuchte Goethe die Städte Italiens, schuf mit Hilfe ihrer Kenntnisse sein literarisches Werk und betrieb dadurch Buchgelehrsamkeit. Somit werden Prozesse der Entstehung des Reiseberichts und die Wirkung sowie der Nutzen der Lesespuren anhand der Privatbibliothek Goethes sichtbar.
Kurzbiographie
Kimberley Wegner erwarb zwei Bachelorabschlüsse in Germanistik und Geschichte und ist Masterstudentin der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Goethe und die Goethezeit, Provenienz- und Bibliotheksforschung, die Literatur und Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie in die Erforschung der Frauengeschichte, mit einem besonderen Fokus auf den Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit, die 2023 unter dem Titel Goethes Privatbibliothek im Spiegel der Italienischen Reise veröffentlicht wurde, untersuchte sie detailliert die Entstehungsgeschichte der Italienischen Reise, die mit Hilfe der Lesespuren in den Büchern aus Goethes Privatbibliothek nachvollziehbar ist.