Das Gespräch führte Nicole Alexander.
Mr. Sherman, wann haben Sie das erste Mal Zeichnungen eines Lesers aus der Zeit der Renaissance in einem Buch gesehen?
Das ist viele Jahre her. Vor dreißig Jahren verbrachte ich als Student aus New York ein Auslandssemester in Cambridge. Dort stieß ich auf einige Bücher aus der Bibliothek eines Mannes namens John Dee. John Dee war ein Paradiesvogel. Er war so eine Art Magier und Zauberer, eine Art Merlin am Hofe von Königin Elisabeth I. Doch es stellte sich heraus, dass er eine große Bibliothek besaß – und die Angewohnheit, seine Bücher intensiv für seine Arbeit zu nutzen. So enthalten sie viele Annotationen – und zwar nicht nur verbale, sondern auch visuelle. Irgendwann fiel mir auf, dass Dee bestimmte Themen – etwa Alchemie oder Reisen – gern am Seitenrand illustrierte. Wenn er zum Beispiel einen Reisebericht las, zeichnete er daneben ein Schiff, und wenn er sich lesend mit irgendeiner alchemistischen Prozedur auseinandersetzte, dann malte er ein Gefäß und eine Flamme. Ich fing also mit Beispielen visueller Marginalien eines Lesers an, der sowohl Worte und als auch Zeichnungen bei seiner Auseinandersetzung mit dem Gelesenen verwendete. Doch es dauerte über 20 Jahre, bis mir die Bedeutung dieses Phänomens klar wurde.
Wie kam es dazu?
Nun, 2008 veröffentlichte ich „Used Books“, mein Buch über verbale Annotationen. Kaum war es publiziert, fielen mir die Bilder und Zeichnungen ein, mit denen sich viele Leser in der Renaissance in ihren Büchern verewigt haben. Zuerst dachte ich, dass das etwas ganz anderes sei, dass es sich dabei um Illustrationen und nicht um Annotationen handele. Aber dann erkannte ich, dass die Renaissance eine stark visuell geprägte Epoche war, dass die Menschen damals Bild und Wort als Einheit begriffen. Während meiner wissenschaftlichen Laufbahn habe ich sehr oft Theorien gewissermaßen von den Füßen auf den Kopf gestellt, um zu sehen, was dann passiert. Und in diesem Fall dachte ich mir: Was, wenn wir uns Lesen nicht als verbalen, sondern als visuellen Vorgang denken?
Das klingt nach einer erkenntnistheoretischen Frage.
Es ist eine erkenntnistheoretische Frage. Wie so oft geht es den ganzen Weg zurück zur Antike, zu Aristoteles, um genau zu sein, der letztlich sagte: Denken ist sehen. Ohne ein Abbild, ein geistiges Abbild, können Sie nicht denken. Es geht dabei eben nicht nur um abstrakte Zahlen und Buchstaben, es geht auch um den sinnlichen Input. So enthält das Wort „imagination“ im Englischen und in den romanischen Sprachen den Begriff „image“. Ein weiteres sehr wichtiges Wort ist „fantasy“. Als „fantasy“ bezeichnet man heutzutage etwas Ausgedachtes, das nur in der eigenen Vorstellung existiert. Aber im Griechischen ist ein „phantasma“ ein visueller Eindruck eines Gedanken, etwas, das Wahrnehmung hervorruft. Von der Antike bis zum Mittelalter gibt es die starke Vorstellung, dass man, um die Welt zu begreifen und über sie nachzudenken, zumindest ein inneres Bild benötigt.
Wie erklären Sie es sich, dass die Forschung bis heute Marginalien ausschließlich als verbale Praxis behandelt?
Nun, dazu sollte ich vorab sagen, dass dieses Gespräch ganz anders verlaufen würde, wenn ich Mediävist wäre. Denn Wissenschaftler, die mit Büchern aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks oder, genauer, mit mittelalterlichen Gebets- oder anderen religiösen Büchern arbeiten, sind es gewohnt, Wort und Bild zusammen zu denken. Das ist eine Standard-Herangehensweise in den Mittelalter-Studien. Aber ich arbeite zur frühen Druckkultur, also mit Büchern, die in den ersten 200 Jahren nach Erfindung des Buchdrucks entstanden sind. Und mit Blick auf diese Epoche gibt es eine Art überlieferte Annahme, dass die Bewegung vom Mittelalter zur Renaissance, vom Manuskript zum Druck, von Süd nach Nord, von Religion zu Wissenschaft, vom Heiligen zum Säkularen – dass all diese Entwicklungen mit einem zunehmenden Misstrauen in das Auge einhergehen und dass eine Verschiebung vom Abbild hin zum Wort stattfindet. Das ist wahrscheinlich einer der zwei Hauptgründe, weshalb sich meine Wissenschaftler-Kollegen diese visuellen Randnotizen nicht angeschaut haben.
Und welches ist der andere Grund?
Der andere Grund – und ich denke, ein sehr wichtiger – ist ein disziplinärer. Die meisten Wissenschaftler, die zu Marginalien oder Annotationen arbeiten, kommen entweder aus der Literatur, der Philologie oder der Ideengeschichte. In diesen Disziplinen ist man stark am Wort interessiert, während in der Kunstgeschichte, der Architektur, sogar den Naturwissenschaften, großes Interesse am Bild besteht. Aber Letztere beschäftigen sich nun einmal nicht mit Randnotizen in Büchern. Und das ist das Problem. Wir neigen dazu, Dinge durch eine bestimmte disziplinäre Linse oder Brille anzuschauen, und in diesem Fall war ich – wie viele, die einen philologischen und literarischen Hintergrund besitzen und sich ein wenig mit Kultur- und Ideengeschichte beschäftigt haben – einfach nicht gewohnt, auf Bilder zu achten.
Könnte ein weiterer Grund sein, dass Zeichnungen in Büchern oft als Ausweis mangelnder Aufmerksamkeit gelten?
Nun, der Begriff der Aufmerksamkeit ist historisch spezifisch und wirft Fragen auf, die schwer zu beantworten sind. Kindische Kritzeleien in Schulbüchern mögen ein Zeichen mangelnder Aufmerksamkeit sein. Wenn wir also Zeichnungen am Rand einer Buchseite sehen, stellen wir uns ihren Urheber gemeinhin als jemanden vor, dem es an Konzentration fehlt. Aber es könnte auch das genaue Gegenteil sein. Es könnte sein, dass er dachte, dies sei eine Textstelle, zu der es sich zurückzukehren lohnt, und dass er sie deswegen mit einer Zeichnung markiert hat – als eine Art Übersetzung oder Blickfang. Was also zunächst nach Ablenkung aussieht, kann in Wahrheit ein Zeichen für eine intensive Beschäftigung mit dem Gelesenen sein.
Gibt es einen Leser, dessen Zeichnungen Sie besonders beeindruckt haben?
Es sind sogar zwei. Der erste ist Bernardo Bembo, ein bekannter Gesandter und Beamter der Republik Venedig im 15. Jahrhundert. Er dachte sogar visuell, wenn er sich keine Bilder anschaute oder zeichnete. Also habe ich angefangen, mir seine Schriften anzuschauen – an welchen Stellen er sich Notizen gemacht hat und wie er diese aufgebaut hat. Klar, er ist in der Kunst zu Hause, die alte Welt umgibt ihn, er ist stark beeinflusst von diesen Dingen. Und natürlich hat er seinen Sohn, Pietro Bembo, der ein berühmter humanistischer Gelehrter und Kardinal wurde, stark beeinflusst. Bernardo Bembo war der erste, bei dem ich dachte, das ist ein wirklich und wahrhaftig visueller Leser.
„Ein wirklich und wahrhaftig visueller Leser”: Der florentinische Gesandte Bernardo Bembo (1433–1519) versah seine Bücher gern mit Zeichnungen am Rande, wie hier ein Werk des römischen Schriftstellers Plinius der Jüngere ( Epistolarum libri IX, Treviso: Ioannes Vercellius, 1483, Stanford Library). Mit freundlicher Genehmigung der S tanford University Library.
Und wer ist der andere?
Das andere ist Sir Thomas Smith, Minister am Hof von Königin Elizabeth I. und Philosoph am Queens College in Cambridge. Wenn man sich Smiths‘ Bücher anschaut, stellt man fest, dass er vor allem auf zwei Gebieten – Recht und Geschichte – visuell dachte und visuell reagierte. Wann immer in seinen Chroniken oder Geschichtsbüchern eine bedeutende Figur auftaucht, verewigte er sie in Form eines Kopfes am Seitenrand. Und fast jedes Mal wenn es um eine Schlacht oder eine militärische Bewegung geht, zeichnete er eine Karte neben die entsprechende Textstelle. Er vermerkte solche Dinge stets visuell an den Seitenrändern. Das ist sehr interessant, denn Smith war Protestant mit einer nicht-visuellen Aufgabe in einer nicht-visuellen Umgebung. Das ist dann schon überraschend, so etwas zu sehen. Auf den ersten Blick ist es fast witzig, weil es wie eine Art Cartoon daherkommt. Es ist, als würde sich ein ernstes schweres Buch in einen Cartoon verwandeln, in einen ernsthaften Cartoon.
Wozu diente das Zeichnen in Büchern?
Es diente verschiedenen Zwecken. In manchen Fällen hat der Renaissance-Leser gezeichnet, um das Buch für sich oder auch für seine Kinder, denen er die Bücher vererbt hat, zu verschönern. Bücher aus dieser Zeit sind unglaublich dauerhafte Objekte. Sie sehen aus, als wären sie gestern hergestellt worden. Die meisten der Bücher, die wir heute kaufen, werden nicht überdauern. Oft sind sie fast schon Wegwerfartikel. Das macht es uns schwer, uns in einen Leser aus der Zeit der Renaissance hineinzuversetzen, für den es selbstverständlich war, dass die Bücher, die er besaß, überdauern würden. Viele Marginalien von Lesern in dieser Zeit sind an die Nachwelt, an zukünftige Leser, gerichtet. Manche Zeichnungen dienten ihrem Urheber auch als eine Art Merkzettel für eine nochmalige Lektüre zu einem späteren Zeitpunkt. Sie sollten ihm helfen, die wichtigen Textstellen rasch wiederzufinden, so dass er nicht das ganze Buch noch einmal lesen muss. Natürlich hätte er sich auch eine lange Randnotiz machen können. Aber eine Zeichnung ist natürlich auffälliger und hat einen höheren Wiedererkennungswert.
Könnten Sie das an einem Beispiel erläutern?
Gern. Der eben genannte Thomas Smith zum Beispiel hat vor allem in seinen juristischen Büchern ein bestimmtes System. Wenn es um einen politischen Vertrag geht, dann verwendet er ein bestimmtes Symbol am Seitenrand, und wenn eine kirchliche Angelegenheit geschildert wird, setzt er ein Kreuz neben die entsprechende Textstelle. Ich denke, die Leser damals hatten ähnlich wie wir heute – ein persönliches System von Abkürzungen oder Symbolen.
Sind Sie auf eine Art Typologie in den Zeichnungen der Leser gestoßen? Werden einige Motive öfter verwendet als andere?
Oh ja. Ich denke, das häufigste Motiv ist die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Oft werden auch Gesichter und Köpfe gezeichnet, gelegentlich auch andere Körperteile oder – seltener – ganze Körper. Ansonsten sind es generell die Dinge, die wir aus der mittelalterlichen Buchmalerei kennen: verschiedene Arten von Vegetation, Pflanzen, Blätter, all so etwas. Und wiederum neigen wir dazu, dies als Dekoration zu sehen, als hübsches Beiwerk. Dabei geht es um mehr. Die Idee im Humanismus ist, dass diese Blumen zu pflücken sind – es ist wie eine Ernte. Die Lektüre eines Buches lässt sich also mit der liebevollen Pflege eines schönen Gartens vergleichen.
Ist das Phänomen des zeichnenden Lesers während der Renaissance weiter verbreitet als vor- oder nachher?
Ja, doch dafür spielen ganz verschiedene Faktoren eine Rolle. So sind der Besitz und die Lektüre von Büchern im Zeitalter des Drucks verbreiteter als im Zeitalter der Handschrift. In mittelalterlichen Klöstern war der Zugang zu Büchern viel eingeschränkter und die Lesefähigkeit war viel schwächer ausgeprägt als in der Renaissance. Einer der Gründe, weshalb ich zur Zeit des frühen Buchdrucks forsche, ist, dass diese Zeit noch insofern mittelalterlich geprägt ist, als dass der Leser sich intensiv mit dem Buch auseinandersetzt, während gleichzeitig viel mehr Menschen Zugang zu Büchern haben als im Mittelalter. In diesem Sinne ist der zeichnende Leser typisch für die Renaissance. Auch die Bildung, vor allem in den verbalen und visuellen Künsten, erlebt während der Renaissance einen Aufschwung. Das Schulsystem ist anders, die Ausbildung ist anders. Und wiederum spielt es eine wichtige Rolle, dass während der Renaissance die Verbindungen zur Antike sehr stark sind und dass lateinische und griechische Autoren intensiv rezipiert werden. Es ist bezeichnend, dass sich so viele visuelle Randbemerkungen in Büchern von Autoren der Antike finden.
Wie sieht es in der Zeit nach der Renaissance aus?
Nun, im 17., 18. und 19. Jahrhundert passieren zwei Dinge. Zum einen werden Bücher gedruckt, die bereits selbst das visuelle Material enthalten, das sich der Leser wünscht. Und es entsteht eine wesentlich stärker illustrierte Sorte von massenhaft produzierten Büchern. Darum hat der Leser weniger zu tun, und die Notwendigkeit, selbst Annotationen vorzunehmen, schwindet. Aber auch andere Praktiken werden wichtig, wie zum Beispiel das Ausschneiden und Einfügen. Speziell im 18. und 19. Jahrhundert gib es ein Phänomen, das manchmal mit dem komischen englischen Wort „grangerizing“ bezeichnet wird. Das bedeutet, dass der Leser Materialien aus einem Buch ausschneidet und in ein anderes Buch einfügt. Das ist zwar eine Art der visuellen Reaktion, aber es ist keine Zeichnung. Dieses Phänomen war ungefähr 200 Jahre lang recht verbreitet.
Was verrät uns Ihre Forschung über den Renaissance-Leser im Vergleich zum heutigen Leser?
Dass der Renaissance-Leser wahrscheinlich eher als der heutige Leser willens war, sich zeichnend in Büchern zu verewigen, und dass er in vielen Fällen besser zeichnen konnte. Außerdem hatte er in der Regel weniger Bücher und mehr Zeit. Daher musste er mehr Zeit mit weniger Büchern ausfüllen.
Wo suchen Sie nach Büchern mit visuellen Annotationen?
Überall. Ich suche, wo immer ich bin und so oft ich kann. Ich habe wohl 25 Jahre mit dem Durchsuchen von Bibliotheken und Büchersammlungen verbracht.
Und wie finden Sie sie?
Das ist sehr schwierig, weil es kein etabliertes Vokabular für die Suche nach ihnen gibt. Normalerweise existiert eine bestimmte Terminologie für die Suche im Katalog. Aber in Bezug auf Nutzungen von und Markierungen in Büchern ist oft nicht klar, welchen Begriff man bei der Suche im Katalog verwenden sollte. Also muss man sich alle möglichen Worte überlegen. Im Falle visueller Annotationen haben wir einige etablierte Bezeichnungen wie „Illustration“, „Skizze“ oder „Kritzelei“. Doch da haben wir schon das nächste Problem: „Kritzelei“ ist ein negatives Wort. Und so ist es mit vielen Begriffen in diesem Bereich: Sie sind negativ besetzt, bezeichnen etwas Unfertiges oder Schlechtes oder Ablenkendes. Ein Problem ist also der Mangel an einem etablierten Vokabular. Ein anderes ist die Tatsache, dass sich die Suchbegriffe für Visuelles in Büchern zumeist auf ihre Produktion beziehen, also auf Illustrationen, die für den Leser und nicht vom Leser hergestellt wurden. Ich denke, Bibliotheken könnten dabei helfen, dass man diese visuellen Marginalien einfacher findet.
Gibt es denn Bemühungen in diese Richtung?
Ein paar, ja. Die American Library Association hat inzwischen ein Vokabular für Lesermarkierungen, für Randnotizen, geschaffen. Aber es ist nicht so gut für visuelle Annotationen geeignet. Deshalb schaue ich mir einfach alles an, was ich in die Hände bekomme. Und wenn ich Glück habe, finde ich etwas. Aber das ist ja eigentlich immer so. Es lässt sich so wenig planen. Ich denke, die beste Forschung beruht auf Zufall.
William H. Sherman ist Literaturwissenschaftler und Direktor Forschung und Sammlungen des Victoria & Albert Museums in London.
Die Konferenz „Biographien des Buches", auf der William H. Sherman den Eröffnungsvortrag mit dem Titel „The Reader's Eye: Between Annotation and Illustration“ hielt, fand vom 5. bis zum 8. April 2016 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel statt. Den Eröffnungsvortrag können Sie hier nachhören.