Die Fragen stellte Carsten Rohde.
Herr Dath, können Sie sich noch daran erinnern, wann und wo Ihnen die Figur „Faust” das erste Mal begegnet ist?
Aus dem Mund meines Großvaters mütterlicherseits, der ganze Textwasserfälle vor allem aus „Faust II” auswendig konnte. Weil er sie punktgenau immer dann zitierte, wenn sie auch wirklich passten, habe ich den klassischen Text nicht als zum Phrasenmonument erstarrte Sprachsäule, sondern als lebendiges Orakel erlebt, und sobald ich konnte, habe ich alles nachgelesen.
Da waren Sie vermutlich vielen Ihrer Altersgenossen voraus, die Faust zumeist in der Schule kennengelernt haben dürften und sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Lektüre auseinandergesetzt haben. Interessant etwa sind die von Schülern übermalten Reclam-Bändchen, die vor einigen Jahren in einer Ausstellung ("Kaba und Liebe – Bekritzelte Reclam-Bände", Museum für Gedankenloses, Köln 1999) zu sehen waren, darunter auch Goethes „Faust”. Ein Pennäler kalauerte auf dem Titelumschlag: „Ich lach mir ins Fäustchen.”
So sind Kinder und Jugendliche halt, so waren wir alle – das bleibt ja nicht auf Schulstoff beschränkt; mit 14 haben wir die Heavy-Metal-Band „Iron Maiden" auch „Ironisches Mädchen” genannt und dergleichen. Worüber man eben lacht, wenn man noch nicht kiffen muss, um fast ohne Grund kichern zu können. Andererseits haben wir damals in den Achtzigern aus altersgemäßem Interesse am Bösen und Mutwilligen und durchaus angeregt von der schulischen Faust-Lektüre natürlich sofort den Satanismus erforscht; eine befreundete Band hat in der Spätpubertät sogar mal die lateinischen Beschwörungen aus dem Marlowe-Faust teilvertont. Schlimm wird es allerdings, wenn jemand mit Ende Dreißig immer noch „das passt ja wie der Faust aufs Gretchen” und ähnliche Flachwitze erzählt.
Welcher „Faust”, außer dem von Goethe, hat Sie noch beschäftigt?
Jeder, den ich erwischen konnte – es ist ja ein schier unerschöpflicher Stoff, an dem sich unfassbar viele Themen festbinden lassen und der sehr viele Formen beleben kann: von David Quinns und Tim Vigils ultrabrutalem „Faust”-Comic über Michael Swanwicks ausgezeichneten „Jack Faust”, der von allen Bearbeitungen des Materials die Gelegenheit am konsequentesten wahrnimmt, die Faustgestalt zu nutzen, um das Diktum von Arthur C. Clarke zu erforschen, jede ausreichend weit fortgeschrittene Technik sei von Magie nicht mehr zu unterscheiden, bis hin zu Hans Wollschlägers „Herzgewächse”, der tiefsten Auseinandersetzung mit Faust als dem düsteren Sinnbild der Anfälligkeit des Intellektuellen für die Versuchung der Macht.
Nicht nur Faust-Comics gibt es inzwischen, sondern auch Faust-Filme, sogar eine Faust-Rockoper – ist Faust von der Popkultur eingemeindet worden?
Na ja, „inzwischen”… Murnaus „Faust”-Film ist immerhin neunzig Jahre alt. „Popkultur” im emphatischen Sinn entstand mehr oder weniger im neunzehnten Jahrhundert, zum Beispiel im Feuilletonroman – sie ist Massenkultur als Erbe der Volkskultur. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kommt dann noch eine Reihe von Nischenkulturen dazu, die ohne Pop nicht entstanden wären und die sich dann etwa „Underground” oder „Independent” nennen oder so ähnlich. Überall dort ist Faust genauso rastlos unterwegs wie alle anderen Gestalten und Motive aus den älteren Breitenkulturen, in deren Ursuppe die Kulturindustrie den Pop ausgebrütet hat. Schon Murnaus Film war in gewisser Weise ja auch nur die Rückkehr des einst vorliterarischen, nämlich legendenförmigen Faust-Stoffes in Erzählformen, die das begrifflich Literarische abstreifen und zum Unmittelbaren, etwa als Bildbewegung, zurückwollen. Die Popkultur gemeindet nichts ein, solche vornehmen Staatsakte überlässt sie dem akademischen Leben. Sie frisst oder paart sich, und für beides eignen sich Faust und sein Teufel sehr gut.
Faust – ein Superheld wie Batman? Ein dunkler Zauberer wie Saruman, der nach dem Ring strebt?
Das sind eher uninteressante Überlegungen, wie sie vom Beziehungswahn der offiziellen wie der Fan-Kulturforschung hervorgebracht werden; sie führen einfach ins öde Nichts der endlosen Reihungen und Äpfel-mit-Birnen-Jonglierveranstaltungen: Ist Batman nicht eigentlich wie Dracula als Superman multipliziert mit Sam Spade geteilt durch Sherlock Holmes hoch Zorro und so weiter und so fort. Langweilig.
Wo sehen Sie heute die größte Aktualität des Faust-Mythos?
Überall. Die Faustgeschichte handelt von uns, vom Pakt mit dem Teufel. Näheres in den Nachrichten, alle paar Minuten.
Dietmar Dath ist Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung”. Er hat Bücher und Essays zu wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Themen sowie mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt „Leider bin ich tot”. Auf Einladung des MWW-Forschungsprojekts „Text und Rahmen” ist er ab Ende April 2016 für zwei Wochen als Gastwissenschaftler in Weimar und hält dort am Mittwoch, den 4. Mai 2016, einen Videovortrag mit dem Titel „FaustScienceFiction”. Darin geht er den Spuren nach, die der Faust-Stoff in jüngerer Zeit in Wissenschaft und Populärkultur hinterlassen hat.
PD Dr. Carsten Rohde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im MWW-Forschungsprojekt „Text und Rahmen” und erforscht in Weimar die Medialisierungen des Faust-Stoffes. Er moderiert die Podiumsdiskussion mit Dietmar Dath, Norbert Otto Eke (Paderborn) und Stefan Matuschek (Jena), die sich an den Videovortrag anschließt.
Veranstaltungsdaten:
FaustScienceFiction
Videovortrag von Dietmar Dath mit anschließender Podiumsdiskussion
4. Mai 2016, 18 Uhr
Goethe- und Schiller-Archiv, Petersen-Bibliothek
Jenaer Straße 1
99425 Weimar
Die Veranstaltung ist öffentlich, der Eintritt ist frei.