Herr Ajouri, der Workshop „Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken – Praktiken – Materialität“ verspricht einen neuen Blick auf den literarischen Kanon der Zeit um 1900. Was heißt das konkret?
Kanonfragen wurden und werden ja in der Literaturwissenschaft häufig als Wertefragen diskutiert: Man versucht abzuschätzen, welche Werte durch den Kanon transportiert werden sollen oder welche Eigenschaften eines Werks und der Gesellschaft, in der es rezipiert wird, dafür verantwortlich sind, dass es kanonisch wird. Wir hingegen interessieren uns mehr dafür, wie kanonische Werke dargeboten werden, also wie die Bücher ausgestattet oder wie sie beworben wurden. Ebenso fragen wir danach, wie Autorbilder geschaffen werden konnten, die zum Anspruch der Kanonizität passen – und zwar sowohl mit Blick auf die „echten“ Klassiker als auch auf die jungen, modernen Autoren, die um 1900 auf ihre eigene Kanonizität hinarbeiten.
Welche Funktion hatten denn die „echten“ Klassiker für die Verlage und darüber hinaus für die Gesellschaft der Jahrhundertwende insgesamt?
Deutsche Klassiker wie Goethe oder Schiller waren seit 1867 nicht mehr durch Privilegien geschützt und durften frei nachgedruckt werden. Es entstand ein großer Markt, der für die Verlage finanziell lukrativ war. Darüber hinaus wurden die deutschen Klassiker, insbesondere Goethe und Schiller, zu „National“-Autoren, also zu Dichtern, die die Einheit Deutschlands 1871 kulturell vorweggenommen hatten und nach der Reichsgründung für die Werte der Deutschen stehen sollten. Sie sollten für die deutsche Identität bürgen, auch in Abgrenzung zu den großen Dichtern anderer Nationen wie Frankreich, England oder Italien.
Welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen auf die Art und Weise, wie literarische Klassiker um 1900 verlegt wurden?
Der Buchmarkt für Klassiker wurde vielfältiger. Neben den traditionsreichen Cotta-Verlag und die preiswerten Volksausgaben traten junge Verleger, die ihr modernes Klassikerverständnis einbrachten. Hinzu kommt, dass sich der Typus des Herausgebers wandelte – ein Prozess, der viel mit der Institutionalisierung der Germanistik an den Universitäten zu tun hat. Wo früher vielleicht ein einfacher Nachdruck einer alten Ausgabe ausgereicht hatte, wurde nun vielfach nach einem kritisch geprüften Text verlangt. Aber das sind nur zwei von vielen Tendenzen, die die Zeit um 1900 so interessant machen.
Einer dieser jungen Verlage, von denen Sie eben sprachen, war der 1899 gegründete Insel-Verlag, dessen Archiv Sie am DLA erforschen.
Ja, der Insel-Verlag hatte nicht nur moderne Autoren wie Rainer Maria Rilke oder Ricarda Huch im Programm, sondern legte auch einen Schwerpunkt auf den Klassiker Goethe. Der Verleger Anton Kippenberg setzte weder auf vielbändige wissenschaftliche Werkausgaben noch druckte er einfach die überlieferten Texte Goethes nach. Vielmehr erstellte er sorgfältige und modern ausgestattete Einzel- und Auswahlausgaben. Er machte Bücher, die gelesen werden und ihr Dasein nicht als Repräsentationsobjekt im bürgerlichen Wohnzimmer fristen sollten.
Ihr Workshop verfolgt die These, dass die Art, in der literarische Klassiker in einer Buchausgabe präsentiert werden, durchaus Auswirkungen hat auf deren Rezeption und Wirkung. Können Sie das an einem konkreten Beispiel deutlich machen?
Viele Faktoren können die Rezeption eines Autors – ob kanonisch oder nicht – zu einer bestimmten Zeit beeinflussen: Textauswahl, Textkonstitution, begleitende Herausgebertexte, Ausstattung, Vertriebswege und natürlich auch der Preis einer Werkausgabe. Nehmen wir den sogenannten „Volksgoethe“ aus dem Insel-Verlag, eine sehr erfolgreiche, sechsbändige Auswahlausgabe von 1909. Die Gedichtauswahl privilegiert den jungen Goethe, und sie zieht die Erlebnis- und insbesondere die Liebeslyrik der Gedankenlyrik vor. Die biographische Einleitung hebt ebenfalls die Bedeutung der Liebeserlebnisse für Goethe hervor, so dass sich Einleitung und Textauswahl gegenseitig stützen. So entsteht ein bestimmtes Autorbild, das mit Goethe als historischer Person und seinem dokumentierten Werk nicht sonderlich viel zu tun haben muss.
Sie selbst halten im Rahmen des Workshops einen Vortrag mit dem Titel „Antiqua und Fraktur im Klassikerdruck um 1900: Zur 'Großherzog Wilhelm Ernst'-Ausgabe des Insel-Verlags“. Was macht diese Ausgabe deutscher Klassiker, die von Harry Graf Kessler in Zusammenarbeit mit dem Insel-Verlag ab 1904 herausgegeben wurde, so besonders?
Diese Werkausgabe revolutionierte die Art und Weise, wie Klassiker in Deutschland verlegt werden konnten. Waren Klassiker-Ausgaben zuvor häufig üppig mit Jugendstilornamenten geschmückt, so verzichtete die "Großherzog Wilhelm Ernst"-Ausgabe auf jedes Ornament. Sie verwendete erstmals Dünndruckpapier und einen dünnen, biegsamen Ledereinband in kleinem Format. Damit schuf Kessler einen Buchtyp, der nicht nur in Deutschland auch heute noch sofort als Klassiker-Ausgabe erkannt wird. Kessler verpflichtete dafür die besten Buchkünstler und Typographen seiner Zeit, und da das Engländer waren, diskutierte man auch in London über die Erscheinungsweise von Goethe-, Schiller-, Kant- oder Schopenhauer-Ausgaben.
Warum entschied sich Kessler dafür, die "Großherzog Wilhelm Ernst"-Ausgabe in Antiqua setzen zu lassen – und nicht in Fraktur, die damals in Deutschland vorherrschende Schriftart, die vor allem in völkischen und alldeutschen Kreisen als „wahre deutsche Schrift“ propagiert wurde?
Die Besinnung auf die Antiqua war wohl von England ausgegangen, wo die Renaissance-Schriftarten in der „Arts and Crafts“-Bewegung wiederentdeckt wurden. In Deutschland hatten junge Dichter wie Hugo von Hofmannsthal oder Stefan George Antiqua-Typen verwendet. In der "Großherzog Wilhelm Ernst"-Ausgabe sollten die Klassiker nicht für ein konservatives und nationalistisch gesinntes Publikum präsentiert, sondern als Autoren vorgestellt werden, die für moderne Problemlagen relevant waren. Die Antiqua gab dieser Klassiker-Ausgabe ihr modernes und weltoffenes Gepräge.
Und wie waren die Reaktionen?
Geteilt. Es gab viel Zuspruch für die große buchkünstlerische Leistung dieser Ausgabe, aber neben berechtigter Kritik an Unzulänglichkeiten wurde von konservativen Kritikern auch angeführt, dass man Goethe oder Schiller nun einmal nicht in Antiqua lesen könnte, ohne dass etwas verlorengehe.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Welche Klassiker-Ausgabe aus der Zeit um 1900 ist Ihre Lieblingsausgabe?
Tatsächlich die Lederbände der "Großherzog Wilhelm Ernst"-Ausgabe. Die Bände sind dünner als heutige Dünndruckausgaben. Dadurch sind sie ganz leicht, liegen wunderbar in der Hand und bleiben aufgeschlagen, wenn man sie auf den Tisch legt.
Dr. Philip Ajouri ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des MWW-Forschungsprojekts "Text und Rahmen" und Leiter des öffentlichen Workshops "Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken – Praktiken – Materialität", der vom 14. bis 16. Januar 2016 am Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) stattfindet.
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Programm
Anmeldungen zum Workshop bitte an: philip.ajouri@dla-marbach.de