Mit der Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland veränderte sich das alltägliche Leben: Öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Schwimmbäder blieben zeitweise geschlossen, viele arbeiten im Home-Office und das Tragen eines Nasen-Mund-Schutzes ist kaum mehr wegzudenken.
Auch die Lehre an Bildungseinrichtungen sah sich mit einem schnellen (zumindest temporären) Umdenken konfrontiert. Der Umstieg auf die digitale Lehre war in aller Munde, stellte viele jedoch vor Herausforderungen. Mit dem Portal Digitale Lehre Germanistik, das am 9. April 2020 veröffentlicht wurde, wurde eine zentrale Anlaufstelle mit Anregungen und Hilfestellungen für die digitale Lehre in der Germanistik geschaffen. Hervorgegangen ist das Projekt aus einer »spontanen kollegialen Kooperation von mehr als zweidutzend Germanist*innen aus Deutschland, England, Belgien und den Niederlanden«. Nun ist das Sommersemester vorbei – wie geht es aber weiter?
Unter dem Hashtag #Twittercampus und #Coronacampus haben sich sehr schnell Meinungen, Diskurse und Fragen über die digitale Hochschullehre in Zeiten der Corona-Pandemie gesammelt. Wie sah die Umstellung bei Ihnen aus und mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?
Kristin Eichhorn: Ich würde sagen, dass die Umstellung eigentlich relativ gut geklappt hat. Unsere Technik-Abteilung und auch die Hochschuldidaktik haben sich wirklich bemüht, die Umstellung so schnell wie möglich auf die Reihe zu kriegen. Es ist natürlich auch eine Sache, die mit sehr viel Verzögerung einherging. Man wusste eben auch nicht: Geht das jetzt das ganze Semester? Oder geht das nur eine gewisse Zeit lang? Ich bin da relativ nachsichtig, weil ich denke, dass man das auch nicht so schnell entscheiden konnte. Da sind aber auch einige Sachen, wo ich sagen würde, die sind recht gut gelaufen, dafür, dass es so schnell gehen musste.
Claudius Sittig: Das ist eine gute Antwort, denke ich. Es war eine große Herausforderung für alle Universitäten und das haben die einen besser, die anderen mit größeren Problemen bewältigt.
Waren die Universitäten technisch gut aufgestellt, sodass eine digitale Lehre problemlos umgesetzt werden konnte?
Claudius Sittig: Ich glaube, man hat im Semester gemerkt, dass die Unis alle nachrüsten mussten. Sowohl was das Know-How, die technische Infrastruktur als auch die Ausbildung der Lehrenden betraf. Es ist sehr deutlich sichtbar geworden, dass die Digitalisierung der Lehre in der Germanistik noch kaum stattgefunden hat. Das ist vielleicht auch ein bisschen zugespitzt, aber es gab jedenfalls sehr großen Nachholbedarf. Wir sind gerade noch dabei zu realisieren, was wir eigentlich können sollten.
Wann kam die Idee auf, ein zentrales Portal zu schaffen, bei dem viele Leute mitarbeiten können und dass gleichzeitig eine Hilfestellung zur digitalen Hochschullehre bieten kann?
Claudius Sittig: Die Idee kam sicher bei vielen gleichzeitig auf. Ich war nur der erste, der das auf Twitter geschrieben hat. Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass wir irgendwie aktiv werden müssen. Wir mussten mit der Pandemie-Situation, mit der Home-Office-Zeit und der der digitalen Lehre umgehen und da war ich mir sicher, dass wir das besser alle zusammen können, als jeder für sich alleine. Aber es hat einen Moment gebraucht, bis der Impuls da war. – Und dann war ich auf der Stelle überwältigt von der großartigen solidarischen Kooperationsbereitschaft, die sich schnell gezeigt hat. Das war ganz großartig.
Jan Horstmann: Jede Uni war auf sich allein gestellt und diese Idee nach einer überregionalen Lösung stand da sehr stark im Raum. Ich glaube, das ist auch der Moment, wo sich der Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel eingeschaltet hat. Wir waren natürlich nicht mit den großen Problemen konfrontiert, weil wir standardmäßig nichts mit Lehre zu tun haben. Wir hatten gleichzeitig aber auch den Vorteil, neutral an die Sache herangehen zu können.
Claudius Sittig: Da kann ich direkt anschließen: Das ganze Projekt hätte in der Form nicht stattgefunden, hätte sich der Forschungsverbund nicht so sehr engagiert. Das war eine unglaublich große Investition an Energie und Arbeitszeit. Es kamen gleich zwei Sachen zusammen: die vorhandene technische Infrastruktur und zugleich ein extrem hohes Know-How in der Digitalisierung. Das war super! Da waren offensichtlich auf Twitter genau die richtigen Leute.
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Welche technischen Herausforderungen gab es bei der Umsetzung eines solchen Portals?
Christiane Müller: Mit den Infos aus dem Twitter-Thread und einem Google Doc haben Jan und ich uns kurz zusammengesetzt. Es gab auch eine strukturelle Videokonferenz mit mehreren Leuten, bei der Wünsche geäußert wurden, was das Portal können sollte. Wir haben auch mit Germanistik im Netz gesprochen, die auch ein Portal haben. Ich habe einfach probiert und das bei der Konferenz vorgestellt. Da war dann eben schon etwas da und die nächste Schritte wurden quasi live eingearbeitet. Man hat eine Info über Twitter oder per Mail bekommen und das wurde direkt eingearbeitet.
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Gab es Schwerpunkte für das Portal ‚Digitale Lehre Germanistik‘? Was muss das Angebot auf jeden Fall leisten?
Christiane Müller: Die kollaborative Arbeit war ein Hauptanforderungskriterium, was sich sehr schnell ergeben hat. Aber auch, dass man Rollen und Rechte vergeben kann. Man hat in der Anfangsdiskussion schon überlegt, dass das in erster Linie ein Angebot für Lehrende sein soll. Dementsprechend muss man ein Formular ausfüllen, um sich zu beteiligen. Sehr schnell ist das dann das Forum und auch das Wiki entstanden.
Jan Horstmann: [...] Wir haben ganz viele Tools zusammengetragen, die nicht speziell für Germanist*innen entwickelt wurden. Es sind viele Kommunikationstools, die in jedem Kontext der virtuellen Zusammenarbeit genutzt werden. Eine besondere Fragestellung war für uns auch, was Germanist*innen ganz spezifisch brauchen. Und da sind wir sehr schnell auf die gemeinsame Textarbeit gekommen. Wir haben ganz speziell nach Tools gesucht und die dann auch sortiert. Zusätzlich − das kommt ein wenig aus meiner Forschungsvergangenheit − haben wir versucht, die digitale Textarbeit voranzubringen. Deshalb haben wir diese Sektion des Labors noch einmal eingearbeitet, in der es dezidiert um Tools geht, mit denen man Aufgaben der Digital Humanities übernehmen kann: Netzwerkanalyse, digitale Annotationen von Texten, Stylometrie... Das ganze Programm, das eigentlich auch im Portal forTEXT – die auch mit uns kollaboriert haben – zu finden ist. [...]
Kristin Eichhorn: Wir haben jetzt eine schöne Sammlung, die wir demnächst auch noch wieder mit Vorlesungen und Audiodateien erweitern müssen. Das sind Sachen aus dem germanistischen Fachbereich, die ohnehin schon Open Source zur Verfügung standen, die die Leute aber nicht kannten
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Viele haben sich am Portal beteiligt, das ist natürlich schon eine erste Resonanz. Gab es darüber hinaus Reaktionen?
Claudius Sittig: Auf Twitter hatten wir sofort eine große Resonanz. Das bedeutet natürlich noch nicht so viel, es wurde immerhin breit zur Kenntnis genommen und weiter geteilt. Offensichtlich gab es eine sehr weit verbreitete Einschätzung, dass das ein wichtiges Projekt war. Wir hatten auch sehr schnell sehr viele Nutzer in den letzten Monaten, auch wenn es aktuell wieder ein wenig stagniert. Aber das wird sicher wieder steigen vor dem nächsten Semester, vor allem, wenn wir das Portal noch einmal aktiv erweitern, bewerben und konsolidieren.
Jan Horstmann: Es gibt auch immer noch Leute, die sich jetzt noch anmelden, um zu diskutieren. Im Forum muss man einen Account haben. Mit der Konferenz, die wir gerade organisieren, hat das Interesse am Portal selber auch noch einmal zugenommen. Man muss natürlich zwischen den Leuten unterscheiden, die sich aktiv registrieren und denen, die einfach nur mitlesen.
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Claudius Sittig: Es waren 24 Leute, die ganz aktiv an der Entstehung mitgearbeitet haben. Natürlich informieren sich sehr viel mehr Leute über dieses Portal und wir sind dabei, weiter zu wachsen − das ist klar!
Kristin Eichhorn: Mit der Gesellschaft für Hochschulgermanistik ist jetzt noch ein Kooperationspartner hinzugekommen und bewirbt das Portal natürlich auch über deren Verteiler, das ist ganz wichtig.
Gibt das Portal Anregungen über die Germanistik hinaus? Ist das Portal ein Alleinstellungsmerkmal für die Germanistik?
Claudius Sittig: Auch in anderen Fächern haben sich die Lehrenden zum Teil als Fachgemeinschaft zusammengefunden und z.B. Link-Listen etc. hergestellt. Wir haben allerdings mit MWW einfach den besten Kooperationspartner, den man haben kann und sind deswegen technisch hervorragend aufgestellt mit dem Portal. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir das erst einmal nur auf ein Fach beschränken wollen. Es war als Kommunikationsstrategie wichtig, Germanist*innen eine Anlaufstelle zu bieten, wenn sie Fragen haben, Anregungen brauchen oder Tools und Ressourcen suchen. Und ein solches zentrales Portal ist tatsächlich, würde ich sagen, ein Alleinstellungsmerkmal für die Germanistik und es war auch als ein Pilotprojekt für die Fachcommunity gemeint.
Kristin Eichhorn: Was ich auch sehr wichtig finde, ist, dass es auch die Auslandsgermanistik mit einbezieht. Dadurch, dass es rein online stattfindet, können sie sich auch mit einbringen. Wir haben sonst gar nicht so viel Austausch zur Germanistik im Ausland, wie wir es vielleicht sollten.
Welche Chancen bietet das Portal ‚Digitale Lehre Germanistik‘? Und wie soll es zukünftig weitergehen?
Claudius Sittig: Es war in von Anfang an in allen Diskussionen auf Nachhaltigkeit angelegt. Wir haben hoffentlich alle produktive Erfahrungen mit der digitalen Lehre gesammelt und dabei das über das Portal Zugang zu Tools und Ressourcen gefunden. Das sollte nicht vergessen werden, wenn jetzt intensiv wieder über die Rückkehr zur Präsenzlehre diskutiert wird. Das ist natürlich ein hoch emotionales Thema für viele Lehrende – und natürlich auch zurecht. Aber das Portal wird in der kommenden Zeit während einer zögerlichen Öffnung der Unis seine Aufgabe sicher weiter erfüllen.
Jan Horstmann: Das Portal ist natürlich auch eine Dokumentation des Corona-Semesters, was die Konferenz auch beschäftigen wird. Wie haben wir das Semester überstanden und wird das in Zukunft selber auch ein Forschungsgegenstand werden können? Das heißt, man kann das Portal selber dahingehend untersuchen, wie digitale Kommunikation während der Pandemie-Situation eigentlich funktioniert hat.
Am 25. und 26. August wird die digitale Konferenz ‚Während und nach Corona: Digitale Lehre Germanistik’ stattfinden. Was können wir erwarten?
Claudius Sittig: Eine erste Rückmeldung ist, dass wir ein wunderbar vielfältiges Tagungsprogramm zusammenstellen konnten, dass die Beiträge alle substantiell sind und dass die Beiträge aus der Mitte der germanistischen Fachgemeinschaft kommen. Und das ist ja ein Indiz dafür, dass sich die Germanistik die Aufgabe der Digitalisierung tatsächlich angenommen hat. Wir haben ein gutes Beiträger*innenspektrum und ein gutes Spektrum an Themen. Auch da ist die Auslandsgermanistik stark dabei.
Christiane Müller: Ich würde vielleicht auch sagen, dass es diese Konferenz gibt, ist ja mit ein Ergebnis. Dadurch kamen auch Leute in Kontakt, die so nicht in Kontakt getreten wären. Da sieht man auch, dass es Sinn macht, das im Nachgang noch einmal zu beleuchten. Für die Konferenz benutzen wir die Möglichkeit des Portals selber. Das bedingt sich alles gegenseitig.
Abschließend gefragt: Wird das Portal ›Digitale Lehre Germanistik‹ weiter wachsen und bleibt es ein Prozess?
Claudius Sittig: Unbedingt!
Jan Horstmann: Und vor allem theoretisch fundiert. Ich glaube, das ist auch ein Alleinstellungsmerkmal: von Anfang an auf Eigenreflexion angelegt.
Das vollständige Interview als pdf-Datei zum Download finden Sie hier.
PD Dr. Kristin Eichhorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in der Literatur des 18. Jahrhunderts, der Gattungstheorie und der moralische Ästhetik.
Dr. Jan Horstmann ist seit Februar 2020 Leiter des Digitalen Labors beim Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Zuvor war er u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) und Koordinator des DFG-Projektes forTEXT an der Universität Hamburg
Christiane Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Digital Humanities beim Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel und für den Virtuellen Forschungsraum (VFR), in dem auch das Portal ›Digitale Lehre Germanistik‹ aufgebaut wurde, zuständig.
PD Dr. Claudius Sittig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die kulturgeschichtlichen Kontextualisierungen von literarischer Kommunikation und literaturtheoretische Ansätze des News Historicism, der Postcolonial Studies und der Gender Studies.
Das Interview führte Rica Burow (Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel).