Die Fragen stellte Nicole Alexander.
Frau Gleixner, der Anthropologe Igor Kopytoff hat in seinem Essay „The Cultural Biography of Things“ die These aufgestellt, dass nicht nur Menschen eine Lebensgeschichte haben, sondern auch Dinge. Die Tagung „Biographien des Buches“ überträgt diese These auf das Buch. Worin manifestiert sich die Lebensgeschichte eines Buches oder einer mittelalterlichen Handschrift?
Die Biographie eines Buches entsteht mit den Wechselfällen seines Daseins. Drucke und Handschriften gehen von einem Besitzer zum nächsten über; oft findet man mehrere Besitzeinträge wie Kettenelemente in einem Band – ist ein Vermerk da, will sich der nächste Erwerber, die nächste Erwerberin auch eintragen und so die neuen Besitzverhältnisse sichtbar machen. Lesende ergänzen, kommentieren und glossieren den Text, manche versehen ihn sogar mit Zeichnungen und Bildern. Damit wird das Exemplar zu einem Unikat, und seine Biographie wird für uns erforschbar. Bücher wandern natürlich auch. Viele sind tausende Kilometer von ihrem jetzigen Standort entfernt entstanden und gedruckt worden. Bücher können auch wieder zurückwandern, etwa aus einem Exil; sie erleben wechselnde Buchnachbarschaften in verschiedenen Sammlungen, erhalten mehrfach Signaturen.
In der Herzog August Bibliothek gibt es sicherlich viele Handschriften und Bücher, die schon aufgrund ihres Alters eine bewegte Lebensgeschichte haben. Gibt es ein Werk, dessen Biographie Sie besonders beeindruckt?
Es gibt immer wieder Werke, die mich besonders berühren – insbesondere dann, wenn ich sie im Lesesaal anfassen darf und sich das haptische mit dem intellektuellen Erlebnis zu einem persönlichen Erkenntnisprozess formt. Wir haben im Bestand ein türkisches Trachtenbuch, einen Pappband mit Klappe, rotbraunem Lederüberzug und Goldprägungen in den Ecken und in der Mitte. Dieser Klebeband enthält eine Reihe von farbigen originalen Miniaturen ohne Text, die goldumrandet eingeklebt wurden. Da gibt es zum Beispiel einen Pascha mit zwei Janitscharen, mongolische Krieger, einen türkischen Hofbeamten, eine Tänzerin, einen Aussätzigen mit Horn und Buch und einen islamischen Mönch. Das Deckblatt erzählt in gewisser Weise die Biographie der Handschrift durch die Einträge der Vorbesitzer. Oberhalb des Wappens ist Laurentius Goßtony als Besitzer genannt, darunter sein Wappen, dann folgt der Entstehungshinweis, demzufolge die Bilderhandschrift 1570 in Konstantinopel im Hause des Kapitäns Ali Pascha von Balázs Csömön Szigetváry gefertigt wurde. Der zweite Besitzer legte seine Identität ganz oben auf dem ersten Blatt mit Datum, 1579 ad diem Marcii primo, und seinem Namen, Georg Korteler, unten rechts und links vom Wappen wie eine durchsichtige Folie über den Vorbesitzer. Vermutlich angeregt durch seine beiden Vorgänger fügte auch Herzog Ludwig Rudolf von Braunschweig-Lüneburg, Enkel von Herzog August, am 4. Januar 1709 auf einer Reise nach Nürnberg seinen Namen hinzu.
Meinen Sie, dass sich unsere Wahrnehmung, vielleicht auch Wertschätzung des Objekts „Buch“ durch die verstärkte Auseinandersetzung mit seiner materiellen Kultur verändert hat?
Sicher hat die Hinwendung zur materiellen Kultur in den Geisteswissenschaften auch das Buch in gewisser Weise „neu“ als Ding entdeckt und mit dieser Entdeckung eine hochinteressante deutende Forschung belebt – und ich gehöre in gewisser Weise zu dieser Gruppe. Aber das Feld der Buchgeschichte, der Einbandforschung und Provenienzenklärung war ein beständiges Forschungsfeld für Altbestands- und Handschriftenbibliothekare wie für die universitäre Buchwissenschaft. Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte ist über 40 Jahre alt. Hier treffen im Bild gesprochen alte und junge Hasen aufeinander und können sich gegenseitig bereichern.
Was bedeutet es für die Forschung, wenn nicht mehr der Inhalt eines Buches im Vordergrund steht, sondern seine Dinglichkeit?
Im Grunde genommen sollten wir eine Dichotomisierung diese Art nicht zulassen. Denn der dingliche Charakter hat immer auch einen Bezug zum Inhalt. In Mittelalter und Früher Neuzeit wird nicht irgendein Text mit einem Prachtband versehen, es ist der liturgische, biblische, konfessionelle Text. Kommentiert und glossiert werden Texte in der Praxis des Lesens. Auch hier gehört Materielles und Inhaltliche zusammen. Denken Sie an kanonische Werkausgaben von Lessing, Schiller, Goethe. Deren Werke werden auch durch ihre Rahmungen, und dazu gehört auch der Einband, kanonisiert. Der dingliche Charakter verbindet sich mit dem inhaltlichen zu einer Erhöhungsdynamik. Das Dingliche wird zum Bestandteil des Kanonisierungsprozesses der Autoren.
Ergeben sich denn durch die Hinwendung zur materiellen Kultur in den Geisteswissenschaften, von der Sie eben sprachen, neue Forschungsperspektiven für die Herzog August Bibliothek?
Ja, die Forschungsperspektiven sind überaus vielfältig. Nur zwei Beispiele: Buchbesitz kann Ausweis des Exils sein. Religiöse Dissidenten haben ihre Bücher nicht selten mit in ihr Exil genommen. Manche dieser Bibliotheken wurde nach dem Tod des Besitzers verauktioniert. Die Herzog August Bibliothek hat etwa 1.100 Auktionskataloge aus der Zeit vor 1800, von denen einige unter der Perspektive des Exils beforscht werden könnten. Ein anderes Beispiel sind Gebetbücher, die voller Besitz- und Geschenkvermerke sind und viele Gebrauchsspuren aufweisen. Eine Untersuchung dieser Gattung kann also zur Erforschung subjektiver Aneignung von Frömmigkeit führen.
Lassen Sie uns konkret über die Tagung "Biographien des Buches" reden. „Fetisch – Makulatur“ heißt eine ihrer Sektionen. Warum erwerben manche Bücher Kultstatus, während von anderen nur der Wert des Altpapiers bleibt?
Seinen Status erhält ein Buch durch gesellschaftliche, kulturelle, politische und religiöse Bewertungen. Wenn ein politisches Gebilde untergeht, interessieren auch seine Gesetzestexte nur noch Forscher. Und wenn eine Religion, wie etwa der katholische Glaube und Ritus in reformatorischen Territorien, abgewickelt wird, dann verlieren liturgische Texte, die ehemals auch einen sakralen Charakter hatten, ihren Zauber und werden auf ihren Materialwert reduziert.
In der Sektion „Medium – Akteur“ wird das Buch nicht mehr aus der alleinigen Verfügbarkeit durch den Menschen betrachtet. Vielmehr wird ihm Handlungsmacht zugeschrieben, die es als aktives Element in kulturellen Konstellationen erscheinen lässt. Können Sie das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?
Das Buch als Akteur zu bezeichnen, ist zugegebenermaßen ein gewisses Wagnis und muss auf der Tagung intensiv diskutiert werden. Wenn Sie sich beispielsweise ein Gebetbuch aus dem 17. Jahrhundert mit einer persönlichen Widmung einer herzoglichen Schwester an ihren Bruder vorstellen, und dieser nimmt dieses sehr kleine Exemplar mit auf einen Kriegszug gegen die Türken, dann kann es sein, dass dieses Buch seine soldatische Kräfte im Einsatz gegen die feindlichen Osmanen mobilisiert. Wer hat dann hier gehandelt? Wir haben einige arabische kleinformatige Handschriften, so genannte Traum- oder Zauberbücher. Diese handschriftlichen privaten Merkbüchlein mit Gebetsformeln und arithmetischen Zeichnungen entfalten für den, der ein solches Büchlein als Amulett bei sich trägt oder eine seiner Gebetsformeln spricht, magische Wirkung. Der Zugang, das Buch als Akteur zu betrachten, will soziale und kulturelle Buchpraktiken ernst nehmen, um die vielfältigen Formen der Agency von Büchern herauszustellen.
Von Spielarten des Vernakularen in mittelalterlichen Codices über Transitstationen einer Exil-Bibliothek bis hin zu digitalen Editionen reichen die Vortragsthemen. Warum war es Ihnen wichtig, den Bogen der Tagung über mehrere Jahrhunderte zu spannen?
Unser Ansatz im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel ist ein epochenübergreifender – und das mit gutem Grund, denn traditionell arbeiten Geistes- und Kulturwissenschaftler epochengebunden. Diese Begrenzung zu durchbrechen, erlaubt es uns, Buchpraktiken über Jahrhunderte zu betrachten und damit auch zu strukturelleren Aussagen über das Buch zu kommen; es ermöglicht uns, Prozesse zu erkennen, die epochenübergreifend wirken und je spezifisch zeitlich und gesellschaftlich verortet sind.
Prof. Dr. Ulrike Gleixner ist Leiterin der Abteilung Forschungsplanung und Forschungsprojekte der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB). Sie leitet die internationale Tagung "Biographien des Buches" der HAB, die vom 5. bis zum 8. April 2016 im Rahmen des Forschungsverbunds MWW stattfindet.
Alle Vorträge der Tagung sind öffentlich, der Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten unter forschung@hab.de.
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Tagungsflyer mit Programm