Paulus Tiozzo war von September bis November 2020 als Stipendiat des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel am Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Hier berichtet er von seinen Erlebnissen aus diesem Herbst.
Zwei Kategorien von Archivstädten
Man pflegt manchmal bei der Bezeichnung von Bildungsstädten von zwei Kategorien zu reden: Einerseits gibt es Städte mit Universitäten, wie meine Heimatsstadt Göteborg, andererseits gibt es Universitäten mit Städten, wie etwa Greifswald oder Lund. Vielleicht sollte man auch von zwei weiteren Kategorien reden: Städte mit Archiven beziehungsweise Archive mit Städten. Marbach am Neckar würde man sehr wohl der ersteren Gattung zuordnen können. Es wäre aber eine Unterschätzung, dies ohne weiteres zu tun; denn meine Erfahrungen, die ich an diesem wunderbaren Ort während sechs Wochen gesammelt habe, sind besonders schön.
Paulus Tiozzo vor dem Schiller-Denkmal in Marbach
Erste Eindrücke
Die Reise nach Marbach begann schon in Frankfurt. Ich flog nämlich aus Göteborg an einem frühem Freitagmorgen Ende September an, sodass ich nicht in aller Eile nach Marbach weiterfahren musste. So hatte ich unter anderem die Möglichkeit, das Goethehaus zu besuchen. Dies sollte sich fast als ein Omen erwiesen; denn als ich am Folgetag per Bahn in Marbach ankam und mich auf dem Weg zum Collegienhaus des Archivs begeben sollte, verirrte ich mich. Es war aber eine durchaus willkommene Verirrung. Ich erreichte stattdessen Schillers Geburtshaus. Ich ging aber nicht gleich rein, sondern erklomm zuerst die Schillerhöhe, wo des Dichters schönes Denkmal mir Bescheid gab, dass ich richtig gegangen war. Danach ging ich zu seinem Haus zurück, wo es aber nicht viel zu sehen gab, außer Schillers Taufmütze, seinen Kinderanzug und eine Waschpresse, vermutlich einst von Mutter Schiller benutzt. Später, bei meinem Besuch im Literaturmuseum der Moderne, konnte ich einige seiner Manuskripte bewundern und außerdem einiges von seinen Gewohnheiten erfahren, dass er zum Beispiel Schnupftabak nahm, seine Hände mit heißen Keramikstäben wärmte und ein rotes Tuch um sein Kopf wickelte, um den Kreislauf zu fördern. So stellte ich mir vor, wie Schiller vor seinem Pult gestanden hat und gelegentlich eine Prise aus seiner Tabakdose nahm. Das ist vielleicht etwas lächerlich von mir, aber man vergisst eben oft, dass Dichter auch Menschen sind. Dies wurde mir nicht zuletzt durch den Anblick der Manuskripte der weiteren Autoren bewusst.
Mir, der einen Großteil seines Alltags mit dem Studium der deutschsprachigen Literatur verbringt, kam der Anblick der Manuskripte fast wie ein persönliches Wiedersehen vor. Da lagen Benns und Brechts letzte in Gips gegossenen Gesichter und gleich daneben Entwürfe von Holz‘ und Celans Gedichten; ich sah Texte von Nina Hagen, Martin Heidegger und Ernst Jünger und W.G. Sebalds Fotogerät, dazu auch Demians Porträt. Der Rundgang zwischen den Blättern war gewissermaßen ein Vorgeschmack auf die nächsten Wochen.
Archivalltag
In der der darauffolgenden Woche begann mein Praktikum. Nach Begrüßungen durch die fantastischen Mitarbeiterinnen im Referat Forschung bekam ich meine Aufgaben, die ich alle im Handschriftenlesesaal absolvieren würde. Gleich nahm den Archivalltag seinen besonderen Verlauf; er begann jeden Morgen mit einem Gang über den Hof vor den Museen, wo mich Schiller begrüßte. Den Rest des Tages saß ich an meinem Platz im Handschriftenlesesaal und las Dokumente. Das klingt vielleicht monoton, um nicht langweilig zu sagen. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Denn, wenn man Briefe liest, liest man ja nicht nur alte Dokumente; man nimmt gleichzeitig an Gesprächen teil, wo eben alle Facetten des Lebens unmittelbarer als sonst hervortreten. Außerdem ist der Lesesaal ein besonders schöner Arbeitsplatz; man sitzt unter einem Glasdach und dann sind auch die Mitarbeiter*innen dort so sympathisch.
Die Dokumente
Nun fragen Sie sich vielleicht, welche Dokumente ich hier denn untersuchte? Es ist schwierig, sie alle ganz genau zu nennen, auch wenn ich das gerne würde. Hauptsächlich waren es Briefe von Mitgliedern der Schwedischen Akademie, die sie an ihre deutschen Freude und Bekannte schrieben. Ich wollte herausfinden, ob es darin etwas Interessantes für mein Dissertationsvorhaben gibt, denn ich beschäftige mich dabei mit dem Nobelpreis und der deutschsprachigen Literatur. Durch das Praktikum kam ich aber auch in Berührung mit ganz anderen Sachen, wobei ich insbesondere Joachim Seyppel nennen möchte.
Ich untersuchte seinen Nachlass, insbesondere seine Tagebücher, wo ich neben politischen Bemerkungen auch erfuhr, wie viel er während seinen Reisen in Nordafrika für Sardinen und Oliven ausgeben musste. Im Übrigen las ich viele Briefe von Paul Ernst, der neben seinen politisch-philosophischen Erläuterungen auch vieles von seinem Alltag zu berichten wusste und dazu auch mit erfinderischen Einfällen kam: ein baldiger Gast, der per Bahn ankommen sollte, sollte Ernst ein Gefallen auf dem Weg tun; er sollte für seinen Gastgeber einen Pelz holen, indem er an einer der Haltestellen – ohne auszusteigen – mit einem weißen Schnupftuch winken sollte, damit der Pelzbesitzer ihm den Pelz gleich ans Zugfenster bringen konnte. Leider weiß ich nicht, wie es damit zu Ende ging.
Ich würde noch gerne von weiteren Sachen erzählen, dafür reichen aber diese Zeilen nicht aus. So schließe ich mit der der folgenden Feststellung, dass wenn ich nur eine einzige Sache bedauern solle, nämlich, dass ich nicht für (mindestens) sechs weitere Wochen bleiben konnte.
Joachim Seyppel während einer Lesung am 7. September 1988 in Marbach, Foto: DLA Marbach
Paulus Tiozzo ist Doktorand an der Universität Göteborg und war für sechs Wochen als Forschungshospitant am Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Der Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel schreibt für jede Verbundinstitution zwei Forschungshospitanzen pro Jahr aus. Weitere Informationen finden Sie hier.