In der German Studies Association (GSA) sind Nordamerikas Deutschlandkundler organisiert - nicht nur Germanisten, sondern auch Wissenschaftler anderer Fächer: etwa Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaften, Musikwissenschaften, Philosophie oder Gender Studies. Ihr Jahreskongress tagt jedes Jahr in einer anderen US-amerikanischen Stadt und zieht mit über 1,000 Teilnehmern sogar mehr Forscher an als der Deutsche Germanistentag. Nach dem verregneten Washington im vergangenen Jahr tagte die GSA diesmal im sonnigen San Diego in Kalifornien. Und zum zweiten Mal in Folge nahm MWW mit einem eigenen Panel teil, das diesmal vom Projekt Autorenbibliotheken gestaltet wurde.
San Diego gehört zu den schönsten Städten der USA. 1769 von spanischen Kolonisten gegründet, gehörte sie einige Zeit zu Mexiko und wurde 1850 von den Amerikanern erobert. Wirklich groß wurde sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg, heute zählt sie mehr als 1,3 Millionen Einwohner. Die Stadt lebt vor allem von der Militär- und Computerindustrie, aber auch vom Tourismus. San Diego ist der Ausgangspunkt vieler Kreuzfahrten, und das große Delfinarium Sea World - umstritten wegen seiner Haltung von Orcas - zählt zu den meistbesuchten Vergnügungsparks der Welt. San Diego ist aber auch als Forschungshochburg bekannt. Neben einem großen Campus der University of California steht dort zum Beispiel das Scripps Research Institute, weltweit eine der führenden Forschungsanstalten in der Biomedizin, in der Spitzenforscher aus aller Welt arbeiten - sogar Nobelpreisträger, die von ihren Universitäten bereits in Rente geschickt worden sind.
Die GSA tagte im touristischen Anlaufzentrum der Stadt, dem sogenannten Hotel Circle, an dem die meisten großen Ketten angesiedelt sind. Zwischen ihnen rauscht, bei Nacht infernalisch laut, der Interstate Highway 8, der von San Diego quer durch die Wüste nach Arizona führt. Die Konferenz selbst fand im Town and Country Resort statt, einer Mischung aus Ferienanlage und Kongressmegazentrum, in dem die architektonischen Stile wild durcheinandergehen. Neben Hoteltürmen, die gut auf eine Ferienanlage in Mallorca passen, gibt es Cottages unter Palmen im britischen Look sowie schmucklos-praktikable Zweckarchitektur der 60er bis 80er Jahre. Die MWW-Mitglieder wohnten teilweise vor Ort, teilweise in einem Motel auf der anderen Seite des Freeways, das atmosphärisch gut in einen alten Wim Wenders-Film gepasst hätte.
Das MWW-Panel Towards an Archeology of Author's Libraries stellte erste Ergebnisse aus den drei Teilprojekten der Forschergruppe Autorenbibliotheken vor. Jörn Münkner (Wolfenbüttel) erwog den Erkenntnis- und Quellenwert frühneuzeitlicher Gelehrtenbibliotheken. Stefan Höppner (Weimar) reflektierte über den wachsenden Stellenwert von Goethes Bibliothek für den Autor. Er stellte die These zur Diskussion, dass der Autor sie in seinen letzten Lebensjahren wie seine Kunst- und Mineraliensammlungen zunehmend als eigenständiges Werk ansah, dass die Büchersammlung aber auch als Arbeitsinstrument für die 1827-1830 erschienene "Ausgabe letzter Hand" wichtig wurde. Caroline Jessen befragte den Stellenwert der zerstreuten Bibliothek des Dichters Karl Wolfskehls als unbequemes Erbe einer nach 1933 zerstörten deutsch-jüdischen Kultur und zeigte in diesem Zusammenhang auf, wie eine Beschäftigung mit der Bibliothek einen anderen Blick auf Wolfskehls Werk freigibt.
Moderiert werden sollte das Panel von Laurie Johnson von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Sie musste jedoch absagen, stattdessen sprang Meike Werner von der Vanderbilt University ein, die bereits das Vorjahrspanel moderiert hatte und (als externes Projektmitglied der Projektgruppe Autorenbibliotheken!) bestens mit der Forschung der drei Vortragenden vertraut ist. Über die American Friends of Marbach hatte sie zudem Frank Trommler von der University of Pennsylvania als Respondenten gewinnen können. Trommler fasste die drei Vorträge geschickt, konzis, ertragreich zusammen und lenkte die Diskussion dann auf die Aspekte, die alle drei Vorhaben verbindet: So wurde vor allem der Stellenwert einer Forschung direkt an den Büchern der Autoren im Vergleich zur traditionellen philologischen Arbeit diskutiert, die vorrangig mit modernen Editionen und Sekundärliteratur arbeitet. Diese Anstöße fließen in die gemeinsame Arbeit der drei Wissenschaftler ein, in der sie sich nicht nur mit den Büchern beschäftigen, die sie selbst untersuchen, sondern auch mit der Frage, was die verschiedenen Autorenbibliotheken verbindet.
Natürlich besuchten die drei MWW-Vertreter auch andere Panels, die für ihre Forschung interessant waren, während sie sich abends auf den Empfängen tummelten, wo sie die Werbetrommel für ihre nächste Tagung Autorschaft und Bibliothek: Sammlungsstrategien und Schreibverfahren rührten, die vom 8. bis 10. November in Weimar stattfindet. Stefan Höppner nahm außerdem auch dieses Jahr am Jahrestreffen seiner ehemaligen Kollegen, den nordamerikanischen DAAD-Professoren, teil. Nicht zuletzt hatte die GSA-Tagung auch kulturell einiges zu bieten: Die Autorin Kerstin Hensel las aus neueren Gedichten und Erzählungen, die DEFA Film Library der University of Massachusetts zeigte Außenseiter des DDR-Kinos, unter anderem die Komödie Wenn du groß bist, lieber Adam von Egon Günther, der absurden Humor à la Pan Tau mit der Filmsprache der Nouvelle Vague verbindet. Der Film handelt von einer magischen Taschenlampe, die jeden Lügner in der Luft schweben lässt; er wurde wegen seines subversiven Potenzials 1966 von der SED verboten, sogar die Tonspur wurde teilweise zerstört. - Höhepunkt war indessen eine abendliche Lesung von Thomas Meinecke aus seinem neuen Roman Selbst, zu dem der Autor auch YouTube-Clips zeigte, unter anderem von David Bowie und seiner eigenen Band F.S.K., die er dann im Zusammenhang mit dem Romantext analysierte. Da blieb gar nicht mehr viel Zeit, sich die Stadt San Diego anzuschauen. Erst nach dem Ende der Tagung zogen die drei MWW-Wissenschaftler gemeinsam los.
Stefan Höppner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von MWW in Weimar. Seit 2015 leitet er das Forschungsprojekt Autorenbibliotheken.