An einem lauen Sommerabend saß ich mit einigen Stipendiatinnen und Stipendiaten auf einer Dachterrasse und wir überblickten, Weinglas in der Hand, das Schiller-Nationalmuseum, das Literaturmuseum der Moderne und das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA). Diese drei bilden auf der Marbacher Schillerhöhe einen Halbkreis um eine Statue von Friedrich Schiller. Marbach am Neckar ist ein malerischer Ort mit Gassen aus Kopfsteinpflaster und krummen Fachwerkhäusern, eingebettet in eine süddeutsche Landschaft aus Weinbergen, Streuobstwiesen und Ackerland. In jenem Moment sahen wir sehr wenig von diesem Blick. Es war viel zu dunkel. Doch das war egal; so charmant es auch sein mag, bei Tageslicht durch Marbach zu schlendern, so galt meine Aufmerksamkeit während der letzten sechs Wochen nicht dem Ort selbst, sondern dem Archiv.
Deutsches Literaturarchiv in Marbach
Einer der schönsten Aspekte meines Praktikums im DLA während des heißesten schwäbischen Sommers seit Jahren war der Austausch mit den Forschenden, den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren verschiedene und weitreichende Wege für kurze Zeit meinen kreuzten. An jenem Abend auf der Terrasse sprachen wir über Themen, die vom Ästhetizismus Stefan Georges bis zum Drogenmissbrauch berühmter Philosophinnen und Philosophen und Schriftstellerinnen und Schriftsteller reichten; von Ernst Jüngers politischer Ideologie bis zum fundamentalen Unterschied zwischen Star Trek (Science-Fiction) und Star Wars (Fantasy als Science-Fiction getarnt). Irgendwann wandte sich die Konversation der wissenschaftlichen Forschung zu, und wir sprachen darüber, was es bedeutet, mit Archivmaterial zu arbeiten.
»Ist es nicht aufregend?«, sagte die junge Stipendiatin auf der Terrasse. »Hier sitzen wir und lesen von ihren Hoffnungen und Sorgen: erste Entwürfe, deren Ränder mit Notizen vollgekritzelt sind, Briefe, in denen sie um Arbeit oder Geld bitten, oder Geburtstagskarten an ihre Mütter. Diese mit kaum leserlicher Handschrift bedeckten Papierbögen beweisen, dass ›deine Leute‹ – und es sind jetzt deine Leute, nicht wahr – wirklich existierten, dass sie wirklich gelebt und geatmet haben. Erst tut man sich schwer, Sätze zu entziffern, nach einer Weile wird es leichter, sie zu entschlüsseln, und bald ist dir die Handschrift genauso vertraut wie deine eigene. Es ist Voyeurismus, der reinste Voyeurismus! Natürlich alles im Namen der wissenschaftlichen Forschung, und was soll ich sagen—« die junge Frau lehnte sich zurück, zog an der Zigarette, die sie sich gerade mit extra dünnem Blättchen gedreht hatte, zuckte mit den Schultern und blies den Rauch langsam wieder aus »—ich liebe es. Man muss es lieben, sonst hat es gar keinen Sinn.«
Das Literaturmuseum der Moderne, im Hintergrund ist das Schiller-Nationalmuseum zu sehen
Der Lesesaal im DLA ist an die Bibliothek angeschlossen. Zwei seiner Wände und das Dach sind aus Glas. Zweifellos kann man dem transparenten Design eine gewisse Symbolik zusprechen, doch die brennende Augusthitze bringt praktische Nachteile mit sich. Trotz der prallen Sonne sitzen und schwitzen die Besucher beim Studieren der Dokumente, die ihnen aus dem Archiv zur Durchsicht gebracht werden. Die unterirdischen Magazine, in denen alle Bestände in nummerierten Kästen untergebracht sind, werden auf stabile 18 Grad klimatisiert, um den Erhalt der Materialien sicherzustellen. Der Lesesaal aber ist mit steigenden Temperaturen einem Glaskessel nicht unähnlich. Trotzdem ist er durchgehend von Lesern besetzt, die die relativ freien Sommermonate produktiv nutzten wollen. Die Frau auf der Terrasse bleibt mir im Gedächtnis. Sie hatte recht: Die Briefe, Papiere, Tagebücher der ›eigenen Leute‹ in den eigenen Händen zu halten, hat in der Tat etwas Unwiderstehliches. Ich selbst habe während meines Aufenthalts im Archiv viel Zeit mit der Korrespondenz von Veza Canetti verbracht. Sie war die erste Ehefrau des österreichischen Nobelpreisträgers Elias Canetti und außerdem eine talentierte und unterschätzte Schriftstellerin.
1938 flohen die Canettis vor der Naziherrschaft aus Österreich nach London, wo Veza Canetti bis zu ihrem Tod 1963 bleiben sollte. In einem Brief an Franz Baermann Steiner in Oxford fragte Veza, ob auch er als »friendly alien« eingestuft worden sei. In dem Brief, der Ende 1939 oder Anfang 1940 geschrieben wurde, scheint sie von dem Begriff einerseits amüsiert, aber andererseits des Gefühls, immer eine Außenseiterin zu sein, überdrüssig zu sein. Ihr ganzes Leben lang betrachtete Veza Wien als ihr Zuhause, doch sie fand sich mit einem Leben im Londoner Exil ab, in einer Stadt, die sie im Dezember 1950 in einem Brief an Hermann Broch etwas verächtlich als „fish tank“ beschrieb, als Aquarium. Fünfundzwanzig Jahre lang lebte Veza als »friendly alien« im Aquarium, mit allen Höhen und Tiefen, die das Leben so mit sich bringt. Sie lernte mit der wiederholten Ablehnung ihrer eigenen literarischen Bemühungen zurechtzukommen, spielte Heiratsvermittler für Freundinnen und Freunde, unterstützte die Karriere ihres Mannes, empfing Besuche, reiste durch Großbritannien, las unzählige Bücher, abonnierte massenhaft Literaturzeitschriften und arbeitete als Redakteurin und Übersetzerin für britische Verlagshäuser.
In Bezug auf Veza Canetti gibt es Forschungslücken, sowohl im Hinblick auf ihr literarisches Schaffen als auch auf ihre Erfahrung im Exil. Ich persönlich war jedoch besonders von den zwei bereits erwähnten, nebensächlichen Kommentaren beeindruckt. Erstens, Vezas Verwirrung über den Gedanken, bei ihrer Ankunft in Großbritannien offiziell als »friendly alien« bezeichnet zu werden, und zweitens ihre Einschätzung, dass London ein »fish tank« sei. Ein Grund, weshalb diese beiden Kommentare mich nachhaltig beschäftigten, könnte an der möglichen Analogie zu meinem Aufenthalt im Archiv liegen. Schließlich war ich ein »friendly alien« in Bezug auf die Briefe, die ich las, hatte mich gar selbst als Beobachterin in Vezas Welt eingeladen. Gleichzeitig waren meine Absichten freundlich und von echter Faszination motiviert. Und im Glasbassin des Lesesaals fühlte ich mich tatsächlich ein wenig wie ein Fisch in einem Meer aus Dokumenten. Die Menge an Material, die selbst eine vergleichsweise kleine Forschungsaufgabe wie die meine zu Veza Canetti freisetzen kann, erscheint zunächst überwältigend. Je mehr man liest, desto klarer werden die Grenzen des verfügbaren Materials. Je mehr sich diese Grenzen verfestigten, desto mehr will man dem Aquarium entkommen und in ein echtes Meer eintauchen.
Im Rahmen meines Praktikums und meiner Forschungszeit hatte ich auch die Möglichkeit, hinter die Kulissen des öffentlichen Archivs zu schauen. Ich durfte Einblick in die internationale Archivforschung und in verschiedene archivübergreifende Projekte gewinnen, war beteiligt an der Hintergrundorganisation der Sommerschule, die alle drei Jahre in Marbach stattfindet, und konnte Briefe von Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Thomas Mann und Hermann Hesse lesen. Bei meinen Bücherstapeln aus der Bibliothek war alles Mögliche dabei, von Ursula von Kardorffs Kriegstagebuch bis zu Aufsatzsammlungen von Reinhart Koselleck. Auch die Themen der Texte, die ich übersetzte, hätten kaum unterschiedlicher sein können: literarische Netzwerke in Brasilien, selbstständige Marzipanproduktion in Jerusalem und die Aufbewahrung und Erschließung von Archivsammlungen waren mit dabei. Außerdem habe ich die Mediendokumentation und das Archivmagazin kennengelernt. Bei einer Besichtigung des Literaturmuseums sah ich Franz Kafkas persönliche Reisegabel; ein Poesieautomat verfasste für mich auf Knopfdruck ein Gedicht. Die vielseitige Arbeit in einer Forschungseinrichtung, die internationale Beziehungen zu Archiven und Universitäten knüpft und gleichzeitig für Forscher und die Öffentlichkeit offen zugänglich bleibt, fand ich sehr spannend.
Poesieautomat im Literaturmuseum der Moderne
Glaubt man den gängigen Klischees sind Archiverfahrungen von dunklen, staubigen Lesesälen, schwankenden Ordnern und Papierstapeln und hastigen Mittagessen in leicht verwahrlosten Gemeinschaftsräumen geprägt. Meiner Erfahrung in Marbach nach könnten diese Klischees nicht weiter von der Realität entfernt sein: Staub bin ich nie begegnet und das wöchentliche Stipendiatencafé, die regelmäßigen Nachmittagsseminare und die zweiwöchige Sommerschule sorgten für Austausch mit anderen Studierenden und Forschenden, und dadurch für die schnelle Integration ins Archivleben. Trotzdem gab es in mir ab und zu dieses Gefühl; das des »friendly aliens«, umgeben von mitunter schwer leserlichen Handschriften in einem drückend heißen, gläsernen Aquarium. Das alles natürlich im Namen der wissenschaftlichen Forschung. Und was soll ich sagen? Ich liebte es.